Joseph Zoderer, Wir gingen

Buch-Cover

Wir gingen. - Was wie ein Übungssatz aus einem Sprachbuch klingt, ist die Quintessenz einer ganzen Epoche.

Genötigt, gedemütigt, eingenebelt und gezüchtigt gehen während der sogenannten Option ab 1939 ganze Heerscharen von Südtirolern außer Landes, und das ganze Spektakel ist im ersten Schrecken in der Erinnerung zur scheinbar lapidaren Erkenntnis verklumpt "wir gingen".

Von beiden Buchenden her frisst sich der Text auf den beiden Sprachkissen italienisch und deutsch gleichmäßig ins Innere und andere Ende, das nicht nur haptisch im Buch in einer Versöhnung in der Mitte liegt. Der Erzähler gibt sich ganz autark und autobiographisch, aber weiß eigentlich gar nichts. ?Ich habe zu spät zu fragen angefangen, ich habe nicht mehr viel erfahren können; als ich zu fragen anfing, lebten sie alle nicht mehr, die ich hätte fragen wollen.? (13)

So bleibt als Auskunftsperson nur der Bruder, der alle Begebenheiten herauf-erinnert, bis sie als passend formuliert werden können. In Meran kämpft der Vater ums Überleben, mal nähert er sich den Faschisten an, damit er die Familie durchbringt, dann optiert er, wird arbeitslos und von allen öffentlichen Lebensbereichen ausgeschlossen.

Er führt eine unspektakuläre Existenz, auf seinen Betteltouren lässt er die Kinder zu Hause, weil er sich schämt, manchmal verkauft er seinen Hund gegen Speck, und der Hund haut dann immer vom neuen Besitzer ab und kommt wieder nach Hause. Irgendwann gehen sie dann alle, obwohl sie nichts verstehen, kommen nach Innsbruck und landen in Graz, irgendwo da setzt dann die originale Erinnerung des Erzählers ein. Die Erzählung läuft logisch entlang des Geschichtsablaufes, und während sie als Geschichte begreifbar ist, kriegen die Beteiligten letztlich nichts mit.

Da stehen dann so verrückte Ideen herum, wonach die Südtiroler irgendwo im Osten eine neuen Heimat aufgebaut kriegen sollten, im Maßstab eins zu eines, und niemand überlegt sich, wo man diese neue Heimat hernehmen sollte, ob man vielleicht andere dafür vertreiben muss. ?Ich habe einen Bock geschossen?, lautet schließlich der resümierende Satz, der sich durch das Leben des Vaters zieht. Irgendwie aus der Jägersprache übernommen klingt diese Formulierung nach Blödsinn, Sündenbock und Sündenfall.

Joseph Zoderers Erzählung ist ein aufregendes Konstrukt, aus Fakten, Erinnerung und Verdrängung eine Geschichte aus der Vorvergangenheit heraufzuholen und aktuell darzustellen ohne Mitleid, Betulichkeit oder Schuldzuweisung. So wie in Sepp Malls Roman ?Wundränder? die Kinder den unschuldigen Zeitblick aufgesetzt haben, geht es auch bei Joseph Zoderers Optantengeschichte um den unschuldigen Blick, den alle tragen, aber den sich niemand selbst glaubt.

Ja, so könnte es gewesen sein, so könnte man über eine ungute Geschichte erzählen, denkt man sich als Leser und ist froh, dass es offensichtlich doch einen brauchbaren Zugang in die Soße der Vergangenheit gibt.

Joseph Zoderer, Wir gingen. Erzählung. Ce n?andammo. Racconto.
Bozen: Raetia 2004. 37 + 33 Seiten. EUR 9,50. ISBN 88-7283-217-9.

 

Helmuth Schönauer, 26-12-2004

Bibliographie

AutorIn

Joseph Zoderer

Buchtitel

Wir gingen

Originaltitel

Ce n‘andammo

Erscheinungsort

Bozen

Erscheinungsjahr

2004

Verlag

Raetia

Seitenzahl

70

Preis in EUR

EUR 9,50

ISBN

88-7283-217-9

Kurzbiographie AutorIn

Joseph Zoderer, geb. 1935 in Meran, lebt im Pustertal.