Markus Lindner / Andreas Pavlic, Sternhagel

andreas pavlic, sternhagelBücherfreunde wissen: Die Steigerung von Buch heißt Umkehrbuch. Das ist eine Art U-Turn, wie man ihn im Rallye-Sport kennt. Man hält das Buch wie immer, macht einen U-Turn, und hat plötzlich ein anderes Buch in der Hand. Die erste Frage bei der Lektüre eines Split-Buches lautet folglich: Was lese ich zuerst? Lese ich in einem Zug bis zur Mitte, oder wechsle ich nach jedem Gedicht die Buchhälfte?

Markus Lindner und Andreas Pavlic schweißt ein Schicksal zusammen, sie sind beide von Tirol-Erinnerung gewürgte Aussiedler, die ihre Jugenderinnerungen an Innsbruck mit einem Blues würzen, um diesen schließlich mit überregionalen Themen zu überlagern.

Die Reihenfolge „Sternhagel / Ist denn das noch Lyrik oder schon Deutsch-Punk“ legt die Deutung nahe, dass man als Erstes bei Markus Lindner mit bildunterlegter Lyrik beginnen könnte, während die Texte von Andreas Pavlic suggerieren, dass es um die Metaebene geht, also das Spielfeld hinter der Lyrik.

Das Buch hat keine Seitenangaben, was die Ermunterung unterstützt, man solle sich zwischen den Seiten wie in einer Galerie bewegen, von Bild zu Bild gehen, von Text zu Text.

Markus Lindner beginnt seinen Streifzug mit jener Irritation, die uns im Februar 2022 kontinental überfallen hat: Während er Arbeiten zusammenstellt, die geprägt sind von Erwärmung, Vergiftung, Erhitzung, Zerstörung der Biosphäre, kommt ein zusätzlicher apokalyptischer Farbbeutel ins Spiel, der in die Weltuntergangskomposition geschmissen wird: der Überfall auf die Ukraine. Der Autor lässt alles stehen, wie es ist, und fragt: „Und jetzt? Die dunklen Zeiten?“

Als Erinnerung an die ferne Kindheit in Tirol tritt ein gewisses Echo auf, es kann, wie im Tourismusland üblich, personalisiert sein, indem es im Loden einen Jodler singt, oder der pure Nachhall, der mit jedem Nachschlag kitschiger wird. „Echo irrt durch die Lauben der Innsbrucker Altstadt.“

Diese Konstellation ist ein praktikabler Mustersatz, um eine Serie von Bildern quasi mit Untertexten auszugestalten. „Sterne fallen auf Wälder“ / „Ein Stern bleibt in der MA 35 stecken“ / „Die leeren Bilder werden zu Schaltkreisen“.

Im Anschluss an diese Bildstrecke kommt es zur Präsentation von Fundstücken. In einem Reiseliederbuch sind drei Songs eingelagert, da war doch einmal was mit einem politischen Liederbuch! Im überhitzten Sommer löst sich ein idyllisches Bild mitten in der Nacht auf und zerbröselt. „Draußen im Garten / unter dem besternten Himmel / das Rauschen der Hauptstraße / Krähen krähen / die Trocknung des Bildes“. Aus allen Texten führen Wege zum titelgebenden Motiv „Sternhagel“, das im Volksmund eine zusätzliche Bedeutung erlangt, wenn etwa jemand sternhagelvoll ist.

Der Herbst XXIX setzt radikal ein und räumt die Bäume zu schwarzen Skeletten ab, im Spätsommer war schon von August-Asche die Rede.

Die gesellschaftlichen Zustände eifern der Naturverdrossenheit nach und gehen in Richtung ökonomisches Finalspiel: „Pyramidenspiele // 1% der Bevölkerung in Österreich besitzt 50% // 1,1% der Weltbevölkerung besitzt 45,6% des Vermögens und über 1 Million US Dollar // 55% der Weltbevölkerung haben weniger als 10000 US Dollar“.

Ein künstlerisches Manifest gegen diese Zustände liefert die Stop-Pyramide: „Stop the war! / Stop the fires! / Stop the prices!“

Ehe die Fundstücke in Wien ihre letzte Ruhestätte finden, indem etwa der Prater zu einem Krater wird, gibt es noch einen Erinnerungsausflug an den berühmtesten Innsbrucker Stadtteil, die Höttinger Au.

„Höttinger Au // Ich war gerade zwei Wochenenden / in der Föhnstadt / und habe schon Trakls Grab in Mühlau besucht. / Wer ist dieser von Ficker daneben? / Wieder Grodek gelesen. / Blaue Tage, weiß glühende Nacht. / Zerbrochener Mund, meiner. / Zerbrochenes Auge. // Weit draußen, der beringte Wanderer / und sein meerener, wolkerner Mond. // 1988“

Nach dem berühmten U-Turn, bei dem man das Buch mit beiden Händen herumreißt wie bei der Rallye das Lenkrad, landet man auf einem neuen Kurs bei Andreas Pavlic.

Sein lyrisches Ich hat seinen ersten Auftritt am sogenannten Fünfer, einem Sprungturm, der einem heranwesenden Jugendlichen ziemlichen Respekt abverlangt wie generell das Leben. Dieses Zögern, Innehalten und Angehen der Aufgabenstellung zeichnet jene Lyrik aus, die vielleicht schon Deutsch-Punk ist. Im Punk werden vor allem nonkonformistische Absichten und Erlebnisse zu einer eigenen Kultur versammelt.

Und tatsächlich kann ein simpler Tag das lyrische Ich herausfordern, indem er aus allen Poren zu schwitzen beginnt. Da liegen die Menschen wie tot am Gemäuer des Kanals, schlürfen Aperol zu Berichten über Muren im Land. Die Stimmung brät sich ein in den 1970ern und man beginnt von Scootern zu träumen, die dereinst elektrisch durch die Innenstädte rauschen sollen. Mike ist im Gedicht zu Gast und träumt von einer guten Zukunft, er hat ein Mädchen im Auge, das vorläufig bloß einem alten Mann zunickt, wie er mit der Krücke im Wasser fischt. Dann träumen sie von einem gigantischen Konzert, wie es vielleicht die Carmina Burana einmal gewesen sind, selbst die Graffiti an der Mauer nicken diesen Träumen zu.

An anderer Stelle wagt sich der Deutsch-Punk selbstbewusst auf die Bühne und featurt „ein populäres Lied von einer überlebten Zeit“. Das Kühnste ist dieser Refrain vom „oh yeah“.

Jetzt, hinterher, lässt sich die Vergangenheit leicht erklären: „ohne Theorie keine Revolution“. Daran hat es also gemangelt, es war keine Theorie da, und so gingen die Dinge ihren beschissenen Lauf, etwa als Oma erbärmlich sterben musste an Krebs, ein Thema aus purem Punk!

Das lyrische Ich surft durch die Subkultur, auf der Suche nach dem persönlichen Sibirien, und landet etwa am Bahnhof Linz. „Jetzt wo das Stahlwerk tot ist / ist die Luft nicht mehr so speziell.“ Ein Frachter mit Kohle fährt vorbei und macht einen Gedankenflash auf nach Tschernobyl, wo gleich darauf die Oma an Krebs gestorben ist.

Im Punk bekommen die Geschehnisse eine neue Logik, die vielleicht besser passt als die Geschichten, die sonst so im Umlauf sind. „Der Tumor ist eine Spinne“ / „Mein Herz ist eine Rakete / donnert wie ein Dartpfeil / in den ausgewachsenen Mond / ab in den Weltraum“.

Wie beim berühmten Bimetall lassen sich die beiden Teile des Buches nicht mehr voneinander trennen und entwickeln dadurch eine Einheit, die weit über den ökonomischen Nutzen hinausgeht. Zwei Bücher zum Preis von einem, ein Vertrieb für zwei Bücher, ein Genuss für zwei Lyriker, die für ein Projekt zu einer lyrischen Dienstfreundschaft zusammengefunden haben.

Markus Lindner / Andreas Pavlic, Sternhagel. Ist denn das noch Lyrik oder nicht schon Deutsch-Punk? Split-Gedichtband, Illustrationen von Markus Lindner und Nicole Szolga. Graphik ‚Frau tanzt mit Kapitalismus‘ von Linda Bilda.
Wien: edition fabrik.transit 2022, [o. S.] 18,00 €, ISBN 978-3-9032671-37-4

 

Weiterführende Links:
edition fabrik.transit: Markus Lindner / Andreas Pavlic, Sternhagel
Wikipedia: Markus Lindner

 

Helmuth Schönauer, 03-09-2022

Bibliographie

AutorIn

Markus Lindner / Andreas Pavlic

Buchtitel

Sternhagel. Ist denn das noch Lyrik oder nicht schon Deutsch-Punk? Split-Gedichtband

Erscheinungsort

Wien

Erscheinungsjahr

2022

Verlag

edition fabrik.transit

Illustration

Markus Lindner / Nicole Szolga /Linda Bilda

Preis in EUR

18,00

ISBN

978-3-9032671-37-4

Kurzbiographie AutorIn

Markus Lindner, geb. 1970 in Schwaz, lebt in Wien.

Andreas Pavlic, geb. 1974 in Innsbruck, lebt in Wien.