Martin Schwietzke, Der Hundeausführroboterausführhund

martin schwietzke, der hundeausführroboterausführhundIm Zeitalter von Hashtag-Überschriften ist es durchaus üblich, den Plot einer Nachricht in ein zusammengepresstes ZIP-Wort zu verpacken. Die deutsche Sprache neigt ohnehin zu Wortverpressungen, man denke nur an die Lust diverser Regierungen, ein Gesetz in Wortmonster zu verpacken und als „Gute-Kita-Gesetz“ zu beschließen.

Martin Schwietzke greift dieses Stilmittel auf und versieht neben der Haupterzählung auch den gesamten Erzählband damit. Durchgehendes Thema der neun Geschichten ist die Überlegung, dass die besten Erzähl-Champignons auf dem lockeren Nährsubstrat der bisherigen Literaturgeschichte wachsen. Eine gute Geschichte fußt meist auf dem Mist einer anderen guten Geschichte und ist upgedatet, aktualisiert und für den modischen Gendergebrauch umgemodelt.

Die Erzählungen bringen bisherige Leseerfahrungen ins Wallen, setzen die klassische Geschichte in ein neues, freches Licht und lassen erahnen, wo die Erzählmeister der Vergangenheit schwächeln und wo sie über Jahrzehnte fit geblieben sind.

Ein Paradebeispiel für dieses Update-Erzählen ist „Die Liebe in Zeiten der Pest“ (29), die unschwer als „Auswuchs“ von Albert Camus Pest zu lesen ist. Gleich zu Beginn heißt es, dass der spätere Nobelpreisträger damals 1947 nicht alle Schicksale restlos aufgegriffen hat und dass ihm manche durch die Lappen gegangen sind.

Diese Biographien werden hier nacherzählt im Stil und mit dem Inventar von damals, aber mit dem Wissen um die Auswirkungen von heute. Als die Pest im Stile von Covid ausbricht, merkt ein Quartett, dass es zwar geistig zusammengehört, aber physisch sich an Reizen nichts mehr zu bieten hat. Zwei Frauen sind in der kleinen algerischen Pest-Stadt Camus in bürgerliche Berufe rund um Bäckerei und Friseur abgewandert, ein Schauspieler in Paris und ein Student in Algier haben nach inniger Jugend die Stadt verlassen und sind von dieser wohl auch schon vergessen worden. Jetzt geht das Gerücht von der Pest um, und die Stadt liegt in Quarantäne. Höchste Zeit für beide Ausreißer, wieder an den Ort der Jugend zurückzukehren und den eingesperrten Jugendlieben zu eröffnen, dass nicht einmal die Pest die Zuneigung stören könne. Die Quarantäne stört freilich die Geschäfte, sodass der eine bald wieder die Sperre durchbricht und stirbt, während der andere legal verschwindet. Bald ist die Seuche vorbei und man rätselt, wer alles gestorben ist und wie. Es gibt wieder viel zum Erzählen.

Diese Geschichte ist als Belohnung ausgelegt für jene Leser, die den Camus vielleicht in Echtzeit damals gelesen haben und merken, wie sensationell aktuell er immer noch ist. Wer den Meister noch nicht kennt, muss unbedingt jenes Ur-Substrat lesen, in das die moderne Erzählung gepflanzt ist wie ein Myzel.

Und die Moral von der Geschichte unterstützt viele Covid-Erfahrungen, wonach Paare plötzlich bemerkt haben, dass Beziehungen letztlich nur auf Worten basieren, die ab und zu mit einer ungelenken Geste unterlegt sind.

Ähnlich gegenwartsklug geht die Erzählung „2015“ vor, wenn sie in mehrmaligem Zeitsprung feststellt, dass letztlich nichts so eingetreten ist, wie es uns die Erzähler von früher in ihren Utopien prophezeit haben. Während eines Weltraumfluges vergisst nämlich ein Schriftsteller sein Manuskript im Weltraum, worin er sich über die Zukunft der Werte Gedanken macht. Jetzt ist er mit seinem Latein am Ende und wünscht sich, dass in einer neuerlichen Mission das missglückte Manuskript zurückgeholt wird, damit es nicht weit draußen im All eines Tages in falsche Hände gelangt.

In einem Projekt für kreatives Schreiben üben die Delinquenten, wie sie aus banalen Ereignissen griffige Floskeln machen könnten. Als Fallbeispiel dient jene fußballerische Hinrichtung während einer WM, als Deutschland mit 7:1 Brasilien gedemütigt hat.

Als unausgesprochene Urform dient freilich Peter Handkes berühmtes Gedicht von der Aufstellung des 1. FC Nürnberg, worin er objet trouvé und Pop zu einer Ikone verbunden hat. Der übende Schreiber spielt allerhand Formulierungen durch, die letztlich auf Griffigkeit und Unsterblichkeit aus sind. Das Ergebnis der Erzählung lautet 7:1 und ist letztlich nur die Antwort auf die Allerweltsfrage, „ob es gestern wieder spät geworden sei“.

Eine abgenützte Erzählform ist jene des Urlaubsberichtes, der trotz Netz und Streaming immer noch auf individuelle Ausgestaltung mit eigenen Wörtern angewiesen ist.

In einem typischen Club-Urlaub wundert sich eine Familie, dass sie nichts vom Land mitbekommt, in das sie gereist ist. Aus Kostengründen ist sie statt in die Dominikanische Republik an die Schwarzmeerküste verfrachtet worden. Die zyrillischen Beschriftungen im Hotel lassen den Schwindel auffliegen. Um zu Hause die Schmach dieser Inszenierung zu vertuschen, schickt die Familie einfach „Grüße aus Südafrika“.

Die unaussprechlich schöne Geschichte vom Hundeausführroboterausführhund handelt wie in Dürrenmatts Physikern vor allem davon, wie der Standpunkt die Identität bestimmt. Während bei Dürrenmatt Psychiater und Klient ihre Identitäten vertauschen und verlieren, kommt es in Zeiten der KI zu einem Desasterverhältnis zwischen einem künstlich erzogenen Hund und einem schwach programmierten Hundeausführer. Die Besitzer der beiden „Undinge“ geraten letztlich selbst in eine fatale Identitätskrise.

Die Verwirrung um die Identität des Ich spielt auch in der abschließenden Geschichte von den „letzten Dingen“ eine Rolle. Bei Friedhofsbesuchen übernimmt das verstorbene Ich die Regie und zieht die trauernde Person an sich und somit heimlich ins Jenseits.

Martin Schwietzke eröffnet mit seinen Geschichten ein völlig neues Genre: Das Weitererzählen eines kanonisierten Kontexts. Dabei stellt sich die angelesene Erwartung als größte Überraschung heraus.

Martin Schwietzke, Der Hundeausführroboterausführhund und andere Geschichten
Klagenfurt: Sisyphus Verlag 2022, 148 Seiten, 14,80 €, ISBN 978-3-903125-69-8

 

Weiterführender Link:
Sisyphus Verlag: Martin Schwietzke, Der Hundeausführroboterausführhund und andere Geschichten

 

Helmuth Schönauer, 20-11-2022

Bibliographie

AutorIn

Martin Schwietzke

Buchtitel

Der Hundeausführroboterausführhund und andere Geschichten

Erscheinungsort

Klagenfurt

Erscheinungsjahr

2022

Verlag

Sisyphus Verlag

Seitenzahl

148

Preis in EUR

14,80

ISBN

978-3-903125-69-8

Kurzbiographie AutorIn

Martin Schwietzke, geb. 1981 in Offenbach, lebt in Bad Reichenhall.