Irene Wondratsch, Kein Flugzeug am Himmel
Dem Tagebuch ist es egal, was in der Welt draußen passiert, es schreibt sich zwischen den Buchdeckeln von selbst voll.
Die Momentaufnahmen von Irene Wondratsch erstrecken sich wie eine riesige Pinnwand über den Zeitraum von April ‘20 bis Februar ‘22 unter dem seltsam leerfegenden Titel: „Kein Flugzeug am Himmel“. Ein leerer Himmel bedeutet Ausnahmezustand, die Leuchtkörper sind aus dem Firmament gefallen, die Witterung ist mehrdeutig, die Blickwinkel Fenster und Mansardenfenster ergeben nur wenig Plastizität für das Nichts.
Die Eintragungen sind chronologisch geordnet, als es zum Jahreswechsel auf 2021 kommt, fällt zuerst die Null aus der Zahl, ehe sich die schreibende Hand an das neue Jahr gewöhnt hat. (57) Wie auf der Pinnwand ergibt sich die Zeitbestimmung dadurch, dass die tieferliegenden Notizen zuerst angesteckt worden sind. Man muss die darüberliegenden Eintragungen beiseiteschieben, ehe man zur Grundschicht vorstößt.
Die Grundschicht ist eine recht vage Botschaft: Etwas Unheimliches ist ausgebrochen und hat die Menschen aus dem öffentlichen Raum verschwinden lassen. Wenn sich noch ein Gesicht bewegt, ist es von einer Maske weggesperrt vom Blick, der es längst aufgegeben hat, jemandem in die Augen zu schauen.
Die Blicke gehen jetzt in den Himmel, wo nichts los ist, hinein in die Gehege des Tiergartens, wo selbst die Tiere irritiert sind von der Verlässlichkeit der Natur, die austreibt, verwelkt und abstirbt wie jedes Jahr.
Ab und zu spricht eine Pressekonferenz zu sich selbst, Botschaften werden in die Haushalte gesendet, es sollen Maßnahmen gesetzt werden, die stumm umzusetzen sind.
An dieser schroffen Erzählhaltung der Welt gegenüber der erzählenden Heldin bewahrheitet sich die alte Weisheit aus pandemischen Tagen: Eine Katastrophe korrespondiert nicht mit den Heldinnen und Helden, diese müssen sich allein einen Reim auf die Zustände machen, indem sie sich verkriechen, absondern und in ein Tagebuch fliehen. Die einen machen Fotos, bis die Speicherkarten voll sind, die anderen pinnen Tageseindrücke auf die Wand, die dritten wechseln ständig die Position, um vielleicht doch noch den entscheidenden Blick auf das all-anwesende Ungemach zu erhaschen.
Die einzelnen Sequenzen überraschen mit jeweils eigenartigen Unterflächen, auf denen das Stativ für eine Kurznotiz aufgebaut ist. Die Erzählerin liegt im Bett, analysiert die Lage, die Stimmung, das Uhrwerk am Handgelenk und steht schließlich auf.
An anderer Stelle setzt die Reflexion bei einem Friseur ein (103), aber beim Umblättern der Notiz steht man plötzlich in der Natur. Der gleiche Atemzug spaltet sich auf in die Innensicht des Salons und die Außenansicht der Botanik. – Der Erzählstandpunkt zwischen diesen Wahrnehmungsschüben geht verloren, die Notizen hängen im leeren Raum wie „kein Flugzeug am Himmel“.
Die Einsätze für die Beobachtungen werden immer absurder. Einmal würgt das Ich beim Anblick eines halbvollen Tellers, und würgt und isst, bis die Nahrungsaufnahme (18) abgeschlossen ist wie das Betanken eines Fahrzeugs. Dann heißt es plötzlich „Maschine kaputt“ (28), während die Hand unter Einsatz größter Feinmotorik das Tablettenkontingent für die nächste Zeit in einen Tagesspender einsortiert.
„Ich esse mein Gulasch und schaue aus dem Fenster.“ (62)
Es sind diese magisch selbst-verlorenen Zeilen, die diese Einträge so zuwendend machen. Helden, die Gulasch essen, kann in der Literatur niemand widerstehen.
Ab und zu ist ein gewisser Jan um die Wege und sagt etwas Bestätigendes, wenn der Erzählerin ein Satz ausgekommen ist. Denn viel gibt es nicht zu reden, wenn die Kommunikation ins Wortlose gerichtet ist, im Badezimmer, beim Blick aus dem Mansardenfenster, beim Anblick der erleuchteten Fenster gegenüber, die suggerieren, dass dort ebenfalls Menschen sitzen und vielleicht in die Ferne schauen.
Im Badezimmer, im Advent. Beides ist ein Anlass für eine Notiz, beides kann mit dem gleichen Wortmaterial bedient und erledigt werden.
Überhaupt muss man die Geschichten als zusammengeschmiedete Kette lesen, deren Glieder austauschbar sind. „Tiergarten – Lainzer Friedhof – Westfriedhof“ (43) ergibt einen recht flüssigen Spaziergang, der im Verlaufe einer Gehstunde ein ganzes Leben abwickeln kann.
Die unheimlichste „Kettenreaktion“ entsteht aus der durchgehenden Lektüre der drei letzten Sequenzen: „Zerstörung - meine Bücher - weite Welt“.
Irene Wondratsch erzählt von einer Welt, in der nichts zusammenpasst, außer dass ein Individuum den Ablauf von Zeit erlebt. Die Heldin ruckelt wie der berühmte Sekundenzeiger durch die Momentaufnahmen, die als Skala für ein Ziffernblatt angeordnet sind. Wenn die eine Runde voll ist, kommt ohne Ruck die nächste. Höchstens die Jahreszahl verändert sich ab und zu. – Eine wundersame Buntheit von Leere! Aber nichts ist bedrückend, es ist immer genug zum Nachschauen da.
Irene Wondratsch, Kein Flugzeug am Himmel. Momentaufnahmen
Klagenfurt: Sisyphus Verlag 2023, 166 Seiten, 14,80 €, ISBN 978-3-903125-76-6
Weiterführende Links:
Sisyphus Verlag: Irene Wondratsch, Kein Flugzeug am Himmel
Wikipedia: Irene Wondratsch
Helmuth Schönauer, 22-04-2023