Sabine Gruber, Die Dauer der Liebe
Für Frauen, die sich ein Leben lang einen autonomen Status geleistet haben, kommen am Lebensabend meist zwei Schocks angetanzt. Zum einen ist es die Aussicht auf eine miese Pension, wenn nicht pausenlos im gewerkschaftlichen Sinn gearbeitet worden ist, zum anderen ist es das Nachlassgericht, wenn die Behörde feststellt, dass es ohne Trauschein kein Erbverhältnis mit dem verstorbenen Partner gibt.
Sabine Gruber setzt mit jenem Knalleffekt ein, der die „Dauer der Liebe“ zu beenden weiß: mit dem Tod des Partners. Der Protagonistin Renata wird nach ungestümem Anklopfen an der Wiener Wohnung durch die Polizei mitgeteilt, dass ein gewisser Konrad gestorben sei. Seine Familie wohnt in Innsbruck, und genaueres werde sie dort erfahren.
Dem Roman ist eine Grabsteinwidmung voraus gestellt, die Insider und Freunde der Autorin als persönliches Statement lesen können, für den gewöhnlichen Leser ist es ausreichend, die Figuren als Figuren zu lesen, denn ist ja das tiefere Thema des Romans: Wie lässt sich jenseits von Kitsch und therapeutischer Zumutung von Liebe, Tod und Trauerarbeit erzählen, ohne dass es intim oder peinlich wird?
Sabine Gruber löst dieses Unterfangen, nämlich das Innerste mit den Mitteln einer allgemeingültigen Sprache offen darzustellen, indem sie ein kluges Erzählgerüst wählt.
Konrad ist als Architekt und Fotokünstler für die Konstruktion von Kunst und Liebe zuständig, Renata sorgt als Übersetzerin dafür, dass die Dinge zwischen diversen Sprachen transportiert werden können, unter anderem übersetzt sie das „Private“ ins „Öffentliche“.
So entsteht ein beinahe essayistischer Dekonstruktionsroman von Liebe, der mit der Todesnachricht einsetzt, und einen längeren Aufenthalt für das Begräbnis in Innsbruck zur Folge hat. Ab der Hälfte des Romans geht es um die „Dekontamination der Liebe“ anhand der Gegenstände in der Wiener Wohnung und im gemeinsamen Landhäuschen in Wagram. Die Trauerarbeit endet in einem wunderbar verdichteten Ausblick auf einen See, an dem Renata mit ihrer todkranken Freundin sitzt: „Wenn der Partner früh stirbt, kann man dessen Zeit ja der Freundin schenken, um deren Leben zu verlängern.“
Nach dem ersten Schock gilt es, die konkrete Sterbesituation zu verdauen. Konrad wird mitten aus einem Kunst-getakteten Leben herausgerissen, er sackt auf einem Parkplatz zusammen und umarmt dabei im Sterben sein Auto – ein Bild, wie gemalt für den Zustand unserer mobilisierten Gesellschaft.
Als Renata Kontakt zu seiner Familie aufnimmt, ist sein Auto schon leergeräumt von allen CDs und sonstigen gemeinsamen Erinnerungsstücken. Die Familie lässt Renata wissen, dass sie nur fallweise geduldet ist, da kein Testament vorhanden ist, gibt es nichts zu erben. Vor allem die Mutter des Verstorbenen holt ihren Sohn wieder heim in ihren Mutterschoß der Erinnerung und lässt Renata wissen, dass Sohn ranghöher ist als Geliebter. Das Begräbnis findet wie selbstverständlich in Innsbruck statt, auch die Urne gehört in die Geburtsstadt und basta. Renata darf wenigstens an einem Entwurf für die Grabrede mitarbeiten. An dieser Stelle kommen andere Geburts- und Sterbedaten zum Zug als im Frontispiz des Romans, ein Indiz, dass man den verstorbenen Konrad durchaus als eigenständige Figur lesen soll, nicht als Bearbeitung einer konkreten Biographie.
„Sie haben eine klare Vorstellung von Witwe!“ (35) fasst Renata zusammen und erschrickt, als der Leichnam abgelichtet wird wie ein Kunstwerk, das dadurch in die Fremdheit entrückt wird. (32)
Fast ein Vierteljahrhundert hat die Beziehung gedauert, die sich manchmal über die Kunst und ihre Ablichtung definiert hat. „Über dem Sadracher Küchentisch an der holzvertäfelten Wand hängt eine Landschaftszeichnung des jungen Konrad, sie zeigt die Serles. Den Namen ‚Hochalter von Tirol‘ verdankt sie ihrem dreistufigen Aufbau.“ (70)
Der öffentliche Raum wird durch Ablichtung, Beschreibung, Dokumentation in einer persönlichen Sprache zu einem intimen Geheimnis, zu dem nur die beiden Liebenden Zugang haben. Für Außenstehende ist der Sadracher Tisch ein bloßes Möbel, das im Innsbrucker Stadtteil Sadrach steht, für die Beziehung wird Sadracher Tisch zu einer Chiffre, die jetzt, nach dem Tod des einen von der anderen wieder dekodiert, dekontaminiert und für die Erinnerung gereinigt werden muss.
Als Renata schließlich das gemeinsame Häuschen besucht, das sie vor Jahren in Wagram gekauft haben, weil Wagram sie in der Struktur an die Serles erinnert, ist es ausgeräumt. Der Bruder des Verstorbenen hat sich vor allem die Kunstgegenstände unter den Nagel gerissen und wird damit eine Ausstellung mit eigenen Geschäftsinteressen inszenieren.
Neben dem Schmerz, dass das Intime von der Fremd-Familie mit Füßen getreten wird, ergeben sich für Renata auch noch künstlerisch-politische Komplikationen. Das intime Archiv besteht aus „Überzeichnungen“ von Bildern aus der Mussolini-Zeit, dem Lieblingsthema des Architekten. Jetzt in fremden Händen wird daraus eine „fascho“-Kunst, wie sie der Bruder abwertend bezeichnet, und somit die Sammlung in ein politisch falsches Licht rückt.
Allmählich tritt Ordnung im Gedankenwirrwarr ein, zumal Renata genügend Enttäuschungsgeschichten (61) aus allen Sprachen und Liebeslagen übersetzt hat. Mit Hilfe eines Wörterbuch-Rouletts (67) weist sie im Sinne Wittgensteins den Dingen und Wörtern einen neuen Gebrauch zu.
Sie geht nicht mehr im Text, sondern im Leerraum spazieren. (85)
„Familienmitglieder dulden einander, und wer den Raum verlässt, über den wird schlecht gesprochen.“ Nach dieser Erkenntnis hat das Paar die Beziehung recht früh vernünftig geregelt. Ein pragmatischer Entschluss ist es auch gewesen, keine Kinder zu haben.
Trotz aller Übersetzungskunst beim Aufarbeiten von Sinn und Bedeutung, setzt sich manchmal Zweifel durch, ob es nicht vielleicht doch eine geheime Beziehung geben hat. Ein Schlüssel aus der Hinterlassenschaft hat Fragmente eine Adresse aufgeklebt und Renata ist sich nicht zu blöd, nachzuschauen, ob der Schlüssel nicht vielleicht zu einer verborgenen Liebeskammer führt. Natürlich passt der Schlüssel nirgendwo. Ähnliches passiert mit einem zerknüllten Zettel, „in Liebe C“, tatsächlich gibt es eine Claudia aus der Vorpartnerschafts-Ära, aber sie ist bloß eine Randnotiz zu einem Dokumentenfoto. – Das Liebesalphabet funktioniert, auch wenn manchmal daraus ein Buchstabe fällt.
„Versprich mir, dass du jemanden suchst“ (182) soll Konrad einmal gesagt haben, vielleicht ist es jetzt Zeit dafür. Renata fährt mit der Freundin an den See, um die Zeit zu akontieren, die jetzt neu aufgebrochen ist.
Sabine Gruber erzählt wie ein Abendhauch, wenn er über die Terrasse schwebt und den heißen Tag auskühlen lässt. Hinter den angerissenen Situationen stehen unsichtbar Thesen, wie sie für einen Essay gelten. Als Leser ist man gleichermaßen aufgewühlt und beruhigt:
- Du darfst als Mann oder Frau geschlechterübergreifende Beziehungen haben, auch wenn du vom Kulturbetrieb dafür geächtet wirst.
- Du kannst die Zeit, die du mit dem Geliebten nicht mehr verbringen kannst, einem anderen schenken.
- Du musst dir die Liebe letztlich ganz allein und selber machen, indem du sie mit der adäquaten Sprache ausstattest.
- Du kannst die Liebe lesen wie einen Roman, so, wie du diesen auf dich wirken lässt, so ist er, so wie die Liebe wirkt, ist sie.
Sabine Gruber, Die Dauer der Liebe. Roman
München: C. H. Beck Verlag 2023, 251 Seiten, 24,70 €, ISBN 978-3-406-80696-4
Weiterführende Links:
C.H. Beck Verlag: Sabine Gruber, Die Dauer der Liebe
Wikipedia: Sabine Gruber
Helmuth Schönauer, 20-07-2023