Elias Schneitter, Zirler Blues
Blues ist eine Lebensstimmung, die sich über eine ganze Jahreszeit, einen Landstrich oder einen kompletten Ort legen kann. Elias Schneitter hat als Erforscher und Herausgeber von Beat-Literatur den Blues quasi am Wegrand geerbt, denn die Grenzen zwischen den beiden Künsten der Peripherie (Beat und Blues) sind fließend.
Obwohl es sich beim Tiroler Ort Zirl um einen berüchtigten Sonnenort mit historischen Weinbergen handelt, sind seine Bewohner durchaus anfällig für eine blaue Stimmung der Melancholie. In diesen Phasen ziehen sich die Menschen auf das Innerste zurück und suchen nach altbewährten Ausdrucksformen, die auf archaischen Gesellschaften fußen. Das können alpine Urlaut-Kompositionen sein, markante Riffs von Beatniks, oder eben Haikus, die den Transport aus dem Japanischen halbwegs überlebt haben.
Die Beatniks geben in blauen Stunden zu, dass sie tagsüber mit dem Haiku liebäugeln, wenn sie etwas ausrücken müssen, was einmalig und universell in 17 Silben Platz hat. Während eines Sprachfestivals in Hall in Tirol, auf dem es vor allem um Beat und seine geheimen Nebenformen geht, soll eines Tages der Beat-Fotograf Harry Redl das „Haiku I“, das sogenannte Schöpfungs-Haiku von der Erschaffung der Welt und ihrer Künste, dem Autor ins Ohr geflüstert haben.
„Haiku I // Das Haiku ist / ein Käfig aus 17 Moren / Darin bist du frei / wie ein Vogel“ (9) Nach so einem Opener ist es nur allzu verständlich, wenn der gesamte Lyrik-Band unter dem Segen einer großen Widmung steht: „Für die Welt“.
Das Projekt „Zirler Blues“ geht auf einen begehbaren Haiku-Pfad zurück, der von Elias Schneitter (Text) und Christian Yeti Beirer (Bildstelen) entlang des Zirler Schlossbachs errichtet worden ist. Wiewohl in Tirol alles, was beschildert ist, mit höchster Aufmerksamkeit gewürdigt wird, denn es könnte sich ja um eine touristische Maßnahme handeln, gelang es diesem Haiku-Pfad nicht, ins Bewusstsein der Bevölkerung zu gelangen. Der Pfad steht seit langem geräuschlos wie ein Haiku neben dem Fluss und lauscht dem Geräusch des Baches, der seinerseits den Sound von Haikus übernommen hat.
Die knapp sechzig Texte sind zu Dreier-Sequenzen auf der rechten Seite zusammengefasst und korrespondieren jeweils mit den Bildern auf der linken Buchseite, so dass man alsbald von Ufertexten am Fluss sprechen kann, der in diesem Fall am Buchrücken zu Tal fließt.
Die Hauptmotive sind Blues, Beat, Kunst, Witterung, Katastrophen, Zirl, Depression.
„Schnecken - Schützen – Straßen“ (25) nennt sich das Katastrophen-Trio, das einen Großteil der gegenwärtigen Tiroler Identität ausmacht. Kaum hat sich jemand einen Quadratmeter Grund vom Berg herausgesprengt, um darin einen Garten anzulegen, eine Liege aufzustellen oder einen Laublüfter zu parken, kommen schon die Schnecken und fressen ihm die Installation bis auf den Felsgrund zusammen. – Kaum ist die Woche bewältigt und die nötigste Arbeit getan, die in der Hauptsache aus Pflege des Tourismus besteht, müssen die Schützen auch schon ausrücken, um jemandem das letzte Geleit zu geben in der Hoffnung, dass diese Performance von den Touristen wohlwollend kommentiert und mit Selfies unterlegt wird. – Kaum öffnest du die Haustür, bist du von einem Netzwerk an Straßen umwickelt, auf dem Navi-gesteuert die Süd- und Nordfahrer des Urlaubs perverse Abkürzungen nehmen quer durch dein Eigentum.
Das waren noch Zeiten, als das Dorf ständig niedergebrannt oder überschwemmt wurde: Wenigstens entsprach es einer Ordnung, die sich mit wohldosierten Silben besingen lässt.
Straßen // Wege sind Blutbahnen / Straßen sind Leben / Nordumfahrung Dorfstraße Autobahn / Atemspray ohne Rezeptgebühr (25)
„Katastrophendorf // Achtmal verrunnen / neunmal verbrunnen / Stau am Zirlerberg / Der Föhn fährt in die Frisur“ (23)
In diesem Ambiente tun sich auch Haikus schwer, einen Sinn zu stiften, der außerhalb der strengen Form liegt. „Sinn // Der Sinn des Lebens / bleibt uns verborgen / Als Kind glaubte ich, / dass es auf der ganzen Welt regnet, / wenn es bei uns geregnet hat.“ (41)
Bei den Bildern tut sich sofort die Frage auf, ob sie wohl der Regel japanischer Meister entsprechen, wonach sie aus 17 Strichen bestehen. – Tatsächlich wird man bei den Bildern von Christian Yeti Beirer, die auf den ersten Blick über-realistischen Emblemen ähneln, nicht fertig mit dem Zählen der Striche, aber siebzehn sind es mindestens. Die Bilder sind der Form alter Fenster nachempfunden, wenn sich kleine Segmente des Fensters öffnen und andere verdunkeln lassen wie die Adventkalender, die das Warten auf den großen Ausblick verkürzen.
Jemand fährt sich ins Nasenloch, seine Hand greift im nächsten Fensterflügel ins Leere und ein Vogel schaut zu. – Eine Kinderhand steckt einen Finger ins Erdloch, und im darunterliegenden Erdfenster zuckt eine Schnecke zusammen. – Die Burg Fragenstein bei Zirl ist für den kindlichen Blick so mächtig, dass die Ansicht in drei Abschnitte unterteilt werden muss, um das Gewaltige auszuhalten. – In einem Selfie mit Beatkünstlern besteht jeder Künstler auf seinen individuellen Ausschnitt, sodass das Bild in drei Teile zerfällt, jedes Gesicht hängt mittlerweile zwischen den Gitterstäben eines Käfigs.
In der Einstimmung zum Zirler Blues sind die Künstler euphorisiert vom Beat. „Amerikanische Beatautoren wie Jack Kerouac und ruth weiss haben sich mit der Form des Haikus beschäftigt, wobei sie die strenge traditionelle Form sprengten und sich auch nicht an die genaue Anzahl der Lautklänge hielten.“ (7)
So gesehen ist der „Zirler Blues“ ein ideales Gelände für Haikus, durch die sich der Zirler Schlossbach schlängelt, wie immer ohne Publikum, aber wohl geleitet durch Kunst.
Elias Schneitter, Zirler Blues. Haikus bebildert von Christian Yeti Beirer
Zirl: Edition BAES 2023, 56 Seiten, 20,00 €, ISBN 978-3-9505283-9-8
Weiterführenden Links:
Edition BAES: Shop
Wikipedia: Elias Schneitter
Helmuth Schönauer, 11-09-2023