Schreiben, Lesen und Lesenlernen in der Neuzeit 2

titelbild wand bilderfibelMit der zunehmenden Konsolidierung des Staates in der Zeit des aufgeklärten Absolutismus trat die schulische Bildung in Lesen, Schreiben und Rechnen immer stärker in den Fokus der politischen Ziele. Neue pädagogische Methoden und Organisationen der Bildung bewirkten eine rasche Alphabetisierung breiter Teile der Bevölkerung.

Neue Lesestoffe und Lernbücher werden verfasst und auch die Lehrerbildung und das Schulwesen werden grundlegende reformiert bzw. neu geschaffen. Lesen und Schreiben wird zu einer allgemein verbreiteten Kulturtechnik, die nicht mehr das alleinige Ziel der Bildung verfolgt, sondern vor allem auch der Unterhaltung dient.

Lesenlernen mit Fibeln

Trotz augenscheinlicher Vorteile konnten sich lautbezogene Methodik-Konzepte bis ins 19. Jahrhundert nur allmählich gegen die Buchstabiermethode durchsetzen. Grund dafür war, dass ausgebildete Lehrer fehlten und der Leseunterricht von Handwerkern, arbeitslosen Soldaten, Studenten oder Kirchendienern gehalten wurden, die sich an den eigenen tradierten Lernerfahrungen orientierten. (Vgl. Hans Rudolf Velten, Se. 34f)

Erst in der Zeit des aufgeklärten Absolutismus geriet die Schulbildung zunehmend in den Fokus des Staates, der dringend nach mehr ausgebildeten Staatsbürgern verlangte. Dazu brauchte es ein staatlich organisiertes Schulwesen mit ausgebildeten Lehrern. Preußen führte 1763 eine allgemeine Schulpflicht ein, Österreich folgte 1774. Neben dem Ausbau eines Volksschulsystems wurden dazu eigene Seminare für die Lehrerbildung eingerichtet.

Bei der breiten Bevölkerung auf dem Land zeigte sich ein enormer Widerstand gegen eine Schulpflicht, weil die Bauern auf die Mitarbeit ihrer Kinder auf Hof und Feldern angewiesen waren. Zudem fehlten oft die Räumlichkeiten für den Unterricht, wobei meist alle Altersgruppen in einer gemeinsamen Klasse untergebracht wurden. Nur wer es sich leisten konnte, ließ seine Kinder zu Hause von der Mutter oder einem Hauslehrer unterrichten. (Vgl. Horst Bartnitzky, S. 3)

1832 wurde mit dem Zürcher Lehrerseminar in Küsnacht das erste staatliche Lehrerseminar eingerichtet. Diese brachten eine wesentliche Verbesserung in der Lehrerausbildung und im Volksschulwesens, indem neue Unterrichtsmethoden nun rasch vermittelt und verbreitet werden konnten. (Vgl. Horst Bartnitzky, S. 4)

Lesestoffe und Inhalte für den Leseunterricht

Fibeln, ABC-Bücher und Leselernbücher, dienten nicht der Unterhaltung oder dem Vergnügen, sondern in erster Linie dem Zweck, lesen zu lernen. Dabei ließen sich die Fibeln besonders preisgünstig herstellen, da sie überwiegend aus einem Papierbogen mit 16 Seiten erstellt werden konnten. Für die 90 % ländliche Bevölkerung war die Fibel bis ca. 1800 der zentrale Leselernstoff. ABC-Bücher hingegen wiesen häufig Holzschnitte mit kolorierten Abbildungen auf, was sie weit aufwendiger und teurer machten und damit vor allem dem Adel und aufstrebenden Bürgertum in den Städten vorbehalten blieb.

ABC oder Namenbüchlein


Josephinische Erzherzogliche A. B. C oder Namenbüchlein. Nachdruck des
Widmungsexemplars von 1741 im Landesmuseum Joanneum in Graz
.
Wikimedia: Josephinisches Namensbüchlein

 

Die sehr gleichförmig und einfach gestalteten Fibeln unterstützten die Lehrenden durch Leselerntexte und häufig auch Anleitungen zum Lesenlernen. Im Gegensatz dazu zeichneten sich die ABC-Bücher für den privaten Unterricht durch Gestaltung, originelle Methoden, belehrende Inhalte mit Gesprächen sowie illustrierte Fabeln und Sprüche aus. (Vgl. Gisela Teistler, S. 52f)

In der Regierungszeit von Kaiserin Maria Theresia wurden für den gesamten katholische Elementarschulbereich neue Maßstäbe angelegt. Die Fibel „ABC- und Namenbüchlein“ für den Erstleseunterricht verfasste Johann Ignaz Felbiger, der sich an den preußisch-protestantischen Bildungsideen orientierte. Die Fibel wurde in den Folgejahren modifiziert auch in den Teilstaaten der Monarchie und im mitteleuropäischen Raum verbreitet. (Vgl. Gisela Teistler, S. 17)

Auch berühmte Pädagogen wie Johann Heinrich Campe, Johann Bernhard Basedow und Johann Heinrich Pestalozzi verfassten Leselernbücher und Elementarbücher, die vornehmlich im privaten Unterricht zum Einsatz kamen. Für Mütter, die ihren Kindern das Lesen beibringen wollten, verfassten Pädagogen eine eigene Reihe von Fibeln. (Vgl. Gisela Teistler, S. 17)

Das ausgehende 18. Jahrhundert brachte somit für den Bereich Schule und Bildung beachtliche Fortschritte, die auf die gesellschaftlichen Veränderungen durch Aufklärung und Revolution aber auch technische und wirtschaftliche Entwicklungen zurückgingen. Der Staat leitete mit der Übernahme der öffentlichen Schulen und der Lehrerausbildung eine Leserevolution ein, die durch zunehmend kostengünstiger hergestellte Bücher und Fibeln sowie deren schnellere und leichtere Verteilung unterstützt wurde. Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts setzte sich die gesetzliche Schulpflicht zunehmend durch und drängte den Privatunterricht in den Hintergrund. Die Schulbücher mussten im Rahmen einer Richtlinienkompetenz vom Staat zugelassen werden und die Fibeln stellten nun ein Schulbuch dar, das nach einem festgelegten pädagogischen Konzept verfasst wurde. (Vgl. Gisela Teistler, S. 17-19)

Heinrich Fechner konzentrierte sich in seinem 1878 erschienen und 1882 erweiterten Werk „Die Methoden des ersten Leseunterrichts“ ganz auf die Geschichte der Methoden des Lesenlernens. (Vgl. Gisela Teistler, S. 22)

Inhaltlich entwickelten sich die Fibeln von christlich geprägten Weltanschauungen zunehmend hin zu Realienbüchern. Mit der Aufklärung werden die religiös geprägten Inhalte durch allgemein moralische Erziehungsideen ersetzt und schließlich durch staatlich vermittelte Wertvorstellungen, wie Gehorsam, Vaterlandsliebe und Untertanengeist wie sie in der Zeit des Nationalsozialismus ihren Höhepunkt fanden, geprägt. (Vgl. Gisela Teistler, S. 28f)

albert anker die dorfschule


In der Zeit der Aufklärung setzte sich in den Schulen langsam
die Lautiermethode als neuer pädagogischer Ansatz durch.

Wikimedia: Albert Anker Die Dorfschule von 1848, 1896

 

Entwicklung einer Lesepädagogik

Auch bei den pädagogischen Ansätzen zum Lesenlernen lassen sich in der Neuzeit deutliche Veränderungen erkennen. Stand beim Lesenlernen zunächst das Auswendiglernen katechetischer Inhalte mit Hilfe der Buchstabiermethode im Mittelpunkt, setzte sich in der Zeit der Aufklärung langsam die Lautiermethode als neuer pädagogischer Ansatz durch. Gleichzeitig wurden mit der Entdeckung der Kindheit immer mehr die spezifischen Lebensumstände von Kindern für das Lernen berücksichtigt. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts verbreitete sich in den Schulen die Schreiblesemethode, die das Lesenlernen erleichtern sollte. In den Fibeln finden sich für Kinder alltägliche und anschauliche Motive, neue pädagogische Konzepte sowie Texte in Schreibschrift. Um 1900 wurde die Fibel zu einem bunten Bilder- und Kinderbuch, das sich in Inhalt und Form an der kindlichen Entwicklung orientiert und schnelle Lernerfolge beim Lesen bewirken sollte. (Vgl. Gisela Teistler, S. 29f)

Aus einer Statistik über den Bildungsstand in den österreichischen Ländern ergibt sich, dass der Anteil an Analphabeten in der Bevölkerung von einem Viertel bis einem Drittel der Bevölkerung im Jahr 1880 auf wenige Prozent im Jahr 1910 zurückging. (Vgl. Achim Doppler, S. 319f)

Lesen im 19. Jahrhundert

Mit Blick auf das Lesen entwickelte sich im 19 Jahrhundert ein Massenpublikum, was sich sowohl in der Quantität der veröffentlichten Bücher, Zeitungen, Zeitschriften u.a. als auch in der Qualität der Druckerzeugnisse widerspiegelt. Mit der zunehmenden Industrialisierung aller Bereiche des Buchmarktes gelang es, immer billiger und bis dahin unbekannte Massenauflagen zu produzieren. Auch die Zahl der veröffentlichten Titel steigerte sich von ca. 4.000 Anfang des 19. Jahrhunderts auf ca. 35.000 bis zum Ersten Weltkrieg. Die Produktionssteigerung der Druckwerke stand dabei in engem Zusammenhang mit der fortschreitenden Alphabetisierung der Bevölkerung. (Vgl. Ute Schneider, Moderne S. 768)

Mit den Pfennig- und Heller-Magazinen ab den 1830-er Jahren, den Familienzeitschriften ab den 1850-er Jahren und den Kolportageromanen ab den 1870-er Jahren wurden gezielt kleinbürgerliche und niedere soziale Schichten als Leser angesprochen, die bis dahin vor allem durch kommerzielle Leibibliotheken versorgt wurden. Die auflagenstarken Magazine dienten dabei sowohl der Unterhaltung als auch der Wissensvermittlung. Seit dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts erhielten Leihbibliotheken zunehmend Konkurrenz durch öffentliche Büchereien, die als Volksbildungseinrichtungen für Jugendliche und Erwachsene eingerichtet wurden. (Vgl. Ute Schneider, Moderne S. 770f)

Auch im Bereich der Kinder- und Jugendliteratur expandierte der Buchmarkt mit immer zahlreicheren Veröffentlichungen. So erschienen zwischen 1800-1850 ca. 11.000 Titel, die im selben Zeitraum zwischen 1850-1900 auf 25.000 Buchtitel anstiegen. Zu den gängigen Genres in diesem Bereich zählten Abenteuerliteratur, nationale Erzählungen und Mädchenromane. Aber auch diese Entwicklung fand ihrer Kritiker, die sich vor allem gegen die Kommerzialisierung der Kinder- und Jugendbuchliteratur und die aufkommende Heftchenliteratur und unterhaltenden Lesestoffe aussprachen. Alternativ dazu entstanden Empfehlungslisten, um die Kinder und Jugendlichen auf eine als pädagogisch wertvoll befundene Literatur hin zu lenken. (Vgl. Ute Schneider, Moderne S. 771)

Lesen im Bildungsbürgertum

Der Anteil des Bürgerstands betrug um die Mitte des 19. Jahrhunderts ca. 5 %, wenn auch das Kleinbürgertum mit den Gewerbetreibenden und Angestellten hinzugerechnet wird 15 %. Bis zum Jahr 1900 erhöhte sich der Anteil auf 7% bzw. 20 %. Bücher und Lesen galten für den Bürgerstand als Statussymbol für Bildung und Wohlstand. Das bürgerliche Lesemodell, das mit Lesen, Schreiben und Buchbesitz verknüpft wurde, hatte Vorbildcharakter für den bürgerlichen Lebensstil, womit sich das Bürgertum sowohl von der Aristokratie als auch der Arbeiterschaft abgrenzte.

lesen im salon

Die Lesevereine waren wichtiger Teil des sozialen Lebens und dienten
dem Meinungsaustausch, Gespräch und der Diskussion vor allem über
die aktuellste Unterhaltungsliteratur.

 

Das Lesen in Vereinen richtete sich nach sozialen Milieus, wie das akademische Bildungsbürgertum, kaufmännische Besitzbürgertum oder Kleinbürgertum, aus. Die Vereine waren wichtiger Teil des sozialen Lebens und dienten dem Meinungsaustausch, Gespräch und der Diskussion über die Lektüre. Verglichen mit den Vereinen der Aufklärung stand nun aber die Unterhaltung im Mittelpunkt. Dabei entwickelte sich ein bildungsbürgerlicher Lesekanon, der eine deutsche Nationalliteratur mit Lessing, Goethe, Schiller u.a. ebenso umfasste wie Werke der Weltliteratur von Shakespeare, Cervantes, Molière oder Dostojewski u.a. Das Zitieren aus den großen Werken entwickelte sich zum bürgerlichen Habitus, für das auch bald schon die passenden Nachschlagewerke mit Zitaten und Redewendungen angeboten wurden. Das Bürgertum fühlte sich zunehmend als kulturelle Elite, die den literarischen Geschmack und den ästhetischen Maßstab vorgab.

Die Lesesozialisation der Kinder lag in den Händen der Familie, hauptsächlich der Mütter, und war auf die Ausbildung der Persönlichkeit durch eine ausgewählte Lektüre ausgerichtet. Kinderlyrik, Bilderbücher und Geschichten wurden zunächst mündlich vermittelt und mehr als Bestanteil der Kommunikation zwischen Mutter und Kind denn als Vorstufe zum Lesen verstanden. Gegen 1900 wird die Alphabetisierung der Kinder zu einer hauptsächlich schulischen Angelegenheit. (Vgl. Ute Schneider, Moderne S. 773-777)

Lesen in der Arbeiterschaft

Verglichen mit dem Bürgertum blieb den Menschen des Arbeiterstandes nur wenig Zeit sich zu bilden, weil sie schon früh in den Arbeitsprozess gezogen wurden. Dadurch konnte sich für das Lesen und Schreiben meist keine Routine entwickeln. Der Besuch der Elementarschulen vermittelte den Kinder nur die wesentlichste Grundbildung wie Lesen, Schreiben, Rechnen, Religion und handwerkliche Fertigkeiten, aber keine Hilfe für den Einstieg in die Welt der Literatur. Erst mit der Einrichtung von Arbeiterbildungsbibliotheken und durch Zeitungen erhielt die Arbeiterklasse die Möglichkeit, am literarischen Leben zu partizipieren. Arbeitervereine stellten in Bibliotheken und Sammlungen Literatur zur politischen Unterweisung, zur Bildung sowie zur Unterhaltung zur Verfügung. (Vgl. Ute Schneider, Moderne S. 777f)

albert anker lesen in der familie


Für Arbeiter und Bauern blieb meist nur wenig Zeit zum Lesen,
dennoch nahm die Lesekompetenz und die Lust am Lesen
auch in diesen Gesellschaftsschichten stark zu.

Wikimedia: Albert Anker Sonntag Nachmittag 1861

 

Lesen im ländlichen Raum

Obwohl im 19. Jahrhundert auch auf dem Land Schulpflicht bestand, hatte in den bäuerlichen Familien die tägliche Landarbeit meist Vorrang vor der schulischen Bildung. Zudem bestanden zwischen dem Land und der Stadt auch starke Unterschiede in Qualität und Quantität beim Angebot an Lesestoffen. Bis ins 20. Jahrhundert beschränkten sich die Lesestoffe auf traditionelle Literatur wie Gebrauchsliteratur, Fibeln, Erbauungsbücher, Kalender, Rätsel, Kochrezepte oder Kolportageliteratur. Der Buchbesitz auf dem Land bewegte sich zwischen einigen wenigen Büchern bis hin zu beträchtlichen bäuerlichen Bibliotheken mit mehr als 600 Buchtiteln. (Vgl. Ute Schneider, Moderne S. 779)

 

Verwendete Literatur:

Ute Schneider, Frühe Neuzeit. In: Lesen – Ein interdisziplinäres Handbuch. Hsg. von Ursula Rautenberg / Ute Schneider, Berlin 2015, S. 739-763
Horst Bartnitzky, 500 Jahre Alphabetisierung: Auf der Suche nach sach- und zugleich kindgerechtem Schriftspracherwerb
Hans Rudolf Velten, Frühe Lese- und Schreiblernbücher des 16. Jahrhunderts. Zu Valentin Ickelsamers Die rechte weis, aufs kürtzist lesen zu lernen (1527) und Teütsche Grammatica (1532?). In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 2012
Gisela Teistler, Schulbücher als bildungsgeschichtliche Quellen: das Beispiel der Fibel. In: Eckert Beiträge 2009/6
Achim Doppler, Standesgemäße Literalität. Praktiken des Lesens und Schreibens. In: Niederösterreich im 19. Jahrhundert 2021
Ute Schneider, Moderne. In: Lesen – Ein interdisziplinäres Handbuch. Hsg. von Ursula Rautenberg / Ute Schneider, Berlin 2015, S. 765-791

 

Titelbild: Friedrich Gotthold Kunze 1847, Wandbilderfibel – Beilage zum Ersten Lesebuche für alle Volksschulen

Andreas Markt-Huter, 03-06-2024

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