Helwig Brunner, Flirren

helwig brunner, flirrenEin guter Zukunftsroman lässt sich mit der Hochrechnung für einen Wahlabend vergleichen, die Stimmen sind abgegeben und werden ausgezählt, die Spannung steigt, und das Ergebnis wird mit der Prognose halbwegs übereinstimmen.

Helwig Brunner arbeitet mit seinem beruflichen Standbein in einem ökologischen Planungsbüro, während er sich als Schriftsteller mit dem Spielbein für „klimarelevante Desaster“ interessiert. Mit dieser Beidbeinigkeit ist auch der Held des Romans „Flirren“ ausgestattet, der von sich sagt, er sei „doppelt gefordert als schreibender Wissenschaftler und forschender Literat“. (63) Der Erkenntnisgewinn aus wissenschaftlichen Versuchsreihen und assoziativen Fiktionen ist wohl auch das geheime Thema des Romans.

Vordergründig spielt die Geschichte ungefähr im 25sten Jahrhundert, also ausreichend fern in der Zukunft, um einen halbwegs objektiven Überblick über die Gegenwart zu erlangen. Leonhard arbeitet als Vergangenheitsforscher. Im aktuellen Projekt lässt er sich jede Menge wissenschaftlicher Arbeiten, Prognosen und Maßnahmen schicken, die man etwa um 2024 zum Thema Weltklimawandel abgewickelt hat.

„Jedes Forschungsprojekt wird an unserer aussichtslosen Situation gemessen und scheitert daher zwangsläufig.“ (108)

Dieser Satz gilt für die Gegenwart genauso wie für die Erlebniszeit des Helden, der isoliert vom Globus in einem sogenannten Human-Areal seine Forschung zur Vergangenheit betreibt.

Während er die Arbeiten aufruft wie Essay-Kapitel, und dabei Europa als versteinerte Echse, abgegriffene Spielkonsole oder Musik-Konserve aus dem Kopfhörer begreift, verfällt er regelmäßig in eine intellektuelle Trauerarbeit. Seine Arbeitskollegin, Digitalgeliebte und Gefühlsprojektion Lea ist an Strahlen-Krebs gestorben. Zwischen der erforschten Zeit und der Futur-Gegenwart haben sich nämlich allerhand Katastrophen ereignet, radioaktives Material liegt auf den Wüsten, Kriege und Energieproduktion haben Fallout abgeworfen, sodass die Erde jetzt unbewohnbar ist.

Die Menschen wohnen in exklusiven Humanarealen, die Landschaften werden wie einst Bilderbücher als Dekoration auf Displays projiziert, sie lassen sich in sattem Grün umblättern, während in Wirklichkeit draußen eine gnadenlose Hitze herrscht. Diese Hitze bewirkt auch dieses doppelgesichtige „Flirren“, das über den Roman gelegt ist. Zum einen ist das Flirren die Auswirkung der Hitze, die aus der Veränderung des Weltklimas entstanden ist, zum anderen entsteht dieses Flirren auch regelmäßig, wenn Sprache verwendet wird. – Sprache stößt wissenschaftlich gesehen immer an ihre Ränder, fasert aus und beginnt zu flirren.

Diese Sprachunschärfe macht es auch unmöglich, hitzebeständige Glücksbegriffe zu finden, sodass der Held als Ich-Erzähler keine richtige Sprache findet, um die Trauer zu seiner Lea zu beschreiben. Einmal verwendet er ihr Bild wie ein kühlendes Landschaftsporträt, dann wieder bleibt er an ihren Worten hängen, wenn sie ihn als „gestrigen Mann alter Schule“ (82) beschrieben hat.

Massives Flirren im eigenen Kopf unterliegt jenem weißen Rauschen, das als Turbulenz nach einem Upload für einen Info-Speicher entsteht. Und tatsächlich gibt es im Humanareal ja keine andere Transformation von Bildung als jene durch Uploads. Jugendliche erhalten statt der Pubertät einfach ein Update, darauf sind die Auswirkungen der Techno-Revolution als Fernsehserien Marke „Pinky Brain“ getarnt.

Je genauer sich der Forscher mit der Vergangenheit beschäftigt, umso mehr entdeckt er, dass die Sätze zwar für alles brauchbar sind, aber im Allerweltsnutzen eben auch wenig Konkretes aussagen. Seinen Status fasst er mit einem wissenschaftlichen Allerweltssatz zusammen. „Ich habe das Privileg, in einem hochtechnisierten Areal zu leben, das existentielle Grundversorgung, einigen Komfort, regelmäßige Wissensupdates und akzeptable Lebenserwartung bietet.“ (59)

Mehr als einmal kommt ihm der Gedanke, dass die Zeit der Schlüssel für alles ist. „Aber was soll man damit aufsperren?“ (59) – Ein Fortschritt, der den Menschen zurücklässt, ist abzulehnen. – Das System rettet und beherrscht uns. – Den Zusammenbruch des Weltklimas vereinnahmen die Neoreligiösen für ihre Vorstellungen von Sünde und Sühne. (97)

Überlagert von diesen Thesen und Theorien keimt in Leonhard die Überzeugung auf, dass es wahrscheinlich der Fiktion bedarf, um dieses Flirren der Tatsachen zu stabilisieren. Bei einem Bildungsausflug mit einem echten Bus, mit echten Ausflüglern in eine echte Landschaft reift die Absicht, für den Abschluss der Arbeit ein Gedicht zu schreiben.

In eine Suchmaschine unterlegt mit Künstlicher Intelligenz gibt er den zentralen Begriff aller Zukunfts- und Klimarelevanten Forschungen ein: „Sonne!“ – Heraus kommt vielleicht etwas, was jemand als Sonnengesang des Franziskus schon einmal eingespeist hat.

Helwig Brunner erzählt punktgenau die Gegenwart als Zukunft, sodass er auf genaue Orts- oder Zeitangaben verzichten kann. Von null bis neunundvierzig sind die Kapitel durchnummeriert, und mit einem griffigen Schlagwort überschrieben, wie Fährte, Wolke, Furor, Zeit oder Mammut.

Der Roman ist natürlich als erzähltes Kontinuum eine spannende Sache, wenn aus der Zukunft für die Gegenwart der Lesenden erzählt wird. Für einen zweiten Lesevorgang empfiehlt sich ein portioniertes Lesen als Essay-Kompendium. Nach dieser Methode ist man für lange Zeit mit sich, dem Roman und der Zukunft allen Sinns beschäftigt.

Helwig Brunner, Flirren. Roman
Graz: Droschl Verlag 2024, 208 Seiten, 24,00 €, ISBN 978-3-99059-149-9

 

Weiterführende Links:
Droschl Verlag: Helwig Brunner, Flirren
Wikipedia: Helwig Brunner

 

Helmuth Schönauer, 24-05-2024

Bibliographie

AutorIn

Helwig Brunner

Buchtitel

Flirren

Erscheinungsort

Graz

Erscheinungsjahr

2024

Verlag

Droschl Verlag

Seitenzahl

208

Preis in EUR

24,00

ISBN

978-3-99059-149-9

Kurzbiographie AutorIn

Helwig Brunner, geb. 1967, lebt in Graz.