Peace Research Institute (Hg.) u.a., Die Geschichte des Anderen kennen lernen
„Das übergeordnete Ziel des Projektes ist es, israelische und palästinensische Schulkinder im Alter von 15 bis 17 Jahren an die historischen Narrative des 20. Jahrhunderts der jeweils anderen Seite heranzuführen, denn diese lesen sie nicht in ihren Schulbüchern. Es soll den Kindern helfen, ihr Wissen über die offiziellen Versionen und Narrative der jeweiligen Seite hinaus zu erweitern. Es soll Geschichte aus einer vielseitigen Perspektive lehren, anstatt die Kinder weiter mit einseitigen Darstellungen zu indoktrinieren, und schließlich soll es Lehrer darin ausbilden, Geschichte/n aus der Sicht mehrerer Perspektiven zu lehren.“
Seit vielen Jahren zählt der Nahostkonflikt zum täglichen Bestandteil der Berichterstattung in den Medien. Die Auseinandersetzung in Palästina wurde durch den jüngsten Terroranschlag in Israel und den Krieg in Gaza verstärkt in den Focus der Weltöffentlichkeit genommen. Das vorliegende Sachbuch stellt ein Friedensprojekt dar, um die unterschiedlichen Sichtweisen auf den Konflikt der jeweils anderen Konfliktpartei vorzustellen und alttradierte Narrative aufzuweichen und in Frage zu stellen.
Ziel des Buches ist es, den jugendlichen Schülerinnen und Schülern aufzuzeigen, dass es nicht nur eine Form der Geschichte gibt, sondern dass sich die Erzählungen je nach Blickwinkel vehement unterscheiden können. Dabei gilt e, durch den Vergleich und die Auseinandersetzung mit der jeweils anderen Geschichtsbetrachtung die gängigen Schwarz-Weiß-Urteile in Frage zu stellen und Verständnis für den Anderen, als Voraussetzung für einen künftigen Frieden, zu entwickeln.
Nach einer Erläuterung der angewandten Methode der dualen Narrative wird die Geschichte des Palästina-Konflikts in neun Kapiteln dargestellt, wobei jeweils auf der linken Seite die Geschichtsbetrachtung aus israelische und auf der rechten Seite aus palästinensischer Sicht zu finden ist.
Das erste Kapitel „Die Balfour-Erklärung“ vom 2. November 1917 stellt die Vorgeschichte und die Grundlagen für den Palästina-Konflikt aus dem Blickwinkel und der Bewertung der beiden Kontrahenten vor. Dabei steht auf der israelischen Seite die Aufklärung, der beginnende jüdische Nationalismus als Folge der Diskriminierung und der Antisemitismus des 20. Jahrhundert als Antriebskraft für den Zionismus im Mittelpunkt. Auf der Seite der palästinensischen Geschichtsschreibung wird der Schwerpunkt auf Palästina als Opfer kolonialer Politik zwischen Großbritannien und Frankreich gelegt, die in der Balfour-Erklärung ihren Höhepunkt gefunden hat, wo die Errichtung einer jüdischen Heimstätte empfohlen wird.
Das zweite Kapitel „Die Zwanzigerjahre“ setzt sich mit der Zeit des britischen Mandats in Palästina auseinander und schildert die ersten Zusammenstöße zwischen Juden und Arabern, die im Jahr 1929 ihren ersten Höhepunkt gefunden haben. Im Kapitel „Die dreißiger und Vierzigerjahre“ wird die Zeit vor der Staatsgründung Israels beleuchtet, bei der auf jüdischer Seite die Zeit des Dritten Reiches und der Holocaust im Mittelpunkt steht.
Im vierten Kapitel „Der Krieg von 1948“ wird der Kampf um Palästina, die Staatsgründung Israels, die aus palästinensischer Sicht als „Nakba“ (Katastrophe) bezeichnet wird, und die Aufteilung des Landes im Zeitraum zwischen 1947 bis 1949 aus der Sicht der beiden Seiten aufgezeigt. „Die Fünfziger- und Sechzigerjahre“ beschreibt einerseits die ständige Bedrohung Israels durch die arabischen Staaten und andererseits die Lage der palästinensischen Flüchtlinge nach der Nakba und die Entstehung einer palästinensischen Identität.
Kapitel sechs „Der Krieg von 1967“ schildert die Vorgeschichte und Gründe für den Ausbruch des Krieges und den Krieg aus dem Blickwinkel der beiden Seiten während Kapitel Sieben „Die Siebziger- und Achtzigerjahre“ die Zermürbung in den permanenten Terroranschlägen und Vergeltungsmaßnahmen bis zum Friedensschluss mit Ägypten und dem Libanonkrieg behandelt. Im Kapitel Acht „Erste Intifada“ und Kapitel Neun „Die Neunzigerjahre“ werden die weiteren Entwicklungen für die Verhältnisse der Gegenwart mit ihren Auseinandersetzungen und Friedensbemühungen aufgezeigt.
„Die Geschichte des Anderen kennen lernen“ ist der bemerkenswerte Versuch dem Geschichtsunterricht eine neue Sichtweise auf die jeweils andere Konfliktpartei zu geben und das traditionelle Verständnis von Opfer und Täter aufzubrechen und kritisch zu beleuchten. Dass das Buch sowohl in israelischen als auch in palästinensischen Schulen verboten wurde, zeigt wie stark der Versuch, Verständnis für die jeweils andere Seite zu eröffnen, selbst in das Spannungsfeld der politischen Auseinandersetzung geraten kann.
Ein überaus empfehlenswertes und lesenswertes Sachbuch, das einen tiefen Einblick in die Sichtweise der beiden kontrahierenden Parteien zu vermitteln und eine einseitige Betrachtungsweise aber auch schnelle Urteile über den Konflikt zu verhindern vermag.
Die Geschichte des Anderen kennen lernen. Israel und Palästina im 20. Jahrhundert. Peace Research Institute in the Middle East (Hg.) / Sami Adwan (Hg.) / Dan Bar-On (Hg.) / Eyal Naveh (Hg.), übers. v. Imke Ahlf-Wien [Orig. Titel: Ta‘ allum Ar-riwaya At-tarihhiya li-t-taraf al-ahar] / Avner Ofrath [Orig. Titel: Lilmod et HaNaNarrativ HaHistori schel Ha’Acher]
Frankfurt a. Main: Campus Verlag 2024, 279 Seiten, 43,20 €, ISBN 978-3-593-51999-9
Weiterführende Links:
Campus Verlag: Die Geschichte des Anderen kennen lernen
Homepage: PRIO Middle East Centre (engl.)
Wikipedia: Dan Bar-On
Jerusalem Peace Institute: Sami A. Adwan (engl.)
Tel Aviv University: Eyal Naveh (engl.)
Andreas Markt-Huter, 26-08-2024