Christian Kössler, Von Weltliteratur, Fabriken und gezähmter Wildnis

h.schoenauer - 23.04.2025

Christian Kössler, Von Weltliteratur, Fabriken und gezähmter WildnisWenn man ein gesamtes Leben als Biographie in einem Buch unterbringen kann, so müsste es auch möglich sein, einen gesamten Stadtteil zu einem Buch zu verdichten, indem man einen begeisterten Bewohner darin herumgeistern lasst.

Seit Jahren lässt die Wagnersche Buchhandlung in der Tradition sorgfältiger Geschichtspflege belesene Abenteurer durch die Stadtteile von Innsbruck pirschen, um darin Phantastisches zu entdecken und für die ahnungslosen Bewohner freizulegen.

Christian Kössler ist als Bibliothekar und Autor grotesker Geschichten prädestiniert für eine Erkundungsreise durch Mühlau, das sich als gebirgiger Stadtteil Innsbrucks wie ein Kind an die Nordkette klemmt.

Seine sechzehn Spaziergänge stellt er unter die weit ausholenden Begriffe „Weltliteratur, Fabriken und Wildnis“. Auf das lokale Metermaß heruntergebrochen stecken dahinter die Aha-Erlebnisse rund um den Lyriker Georg Trakl, die Rauch-Mühle, die seit Jahrzehnten den östlichen Zutritt zur Stadt mit feinem Mahlwerk überwacht, und schließlich die ungebrochene Wildnis, die erst im Untergeschoß der Nordkette so richtig werkelt als eine der größten Trinkwasserquellen des Kontinents.

Die Erkundungstouren sind sorgfältig vorbereitet, indem der Autor im Stadtarchiv und an der Unibibliothek alles Zeitgeschichtliche studiert, das irgendwie mit Mühlau zu tun hat. Dazu kommen die mündlichen Darbietungen einheimischer Solitäre, die atemlos berichten, wie es früher war. Und das haptische Abgreifen des Geländes mit Berg- oder Stadtschuhwerk lässt die Geschichten plastisch werden wie ein Theaterstück, das Schauspieler in den Spielboden treten.

Die Weltliteratur in Gestalt von Georg Trakl ist vor allem durch den Kulturmäzen und Namensstifter des Brenner-Archivs Ludwig von Ficker in Mühlau sesshaft geworden. Aus aller Welt strömen schwermütige Literaturliebhaber an die Grabstätte Trakls, um mit etwas Glück und Föhn jenen morbiden Hauch von Vergänglichkeit zu erhaschen, der die Gedichte Trakls umweht.

Ein Zitat von Karl Kraus, wonach Mühlau die Heimat positiver Gedanken sein könnte, gibt dem Stadtteil zusätzliche Bodenständigkeit in der Welt der fiktionalen Literatur.

Die Fabriken aus der Gründerzeit haben Mühlau ein unverwechselbares Gesicht gegeben, sind sie doch neben ihren Gebäuden vor allem als Wasserwerke, Brücken und Bahnen in Erscheinung getreten. Vieles steht unter Denkmalschutz, wie etwa die Innbrücke der klassischen Hungerburgbahn, die sich nur mehr als Memorial einer vergangenen Epoche nutzen lässt.

Vielleicht hängt es mit der häufigen Föhnstimmung zusammen, dass immer wieder Nostalgie und Blues um die Ecke schauen, wenn man von der Durchzugsroute abweicht und sich in verschwiegenes Gelände begibt.

Ganz Hollywood war seinerzeit in einem Kino zu Gast und hat Cineasten aus ganz Tirol ins Koreth-Kino getrieben. Später wurde diesees sinnigerweise für Hochzeiten a la Hollywood verwendet, ehe es dann zu einem prägenden Architekturpunkt des Hauptplatzes geworden ist.

Wenn man in der richtigen Seitengasse unterwegs ist, trifft man jäh auf ein Kloster, das als Archiv der Kontemplation gelesen werden kann. Oft schon beim Vorbeigehen verändert sich der Zeitstrom, mit dem allerhand Flanierende unterwegs sind.

Je länger man den Stadtteil durchstreift, umso häufiger tun sich seltsame Zugänge, Geländeritzen, Gartenfluchten oder Gesimskanten auf, die vielleicht ein Geheimnis hüten. Der Autor Christian Kössler lässt darin schelmisch seine Grotesken spielen, die er als Happening im Stadtteil inszeniert oder in der Stadtteilbibliothek präsentiert. Bei dieser Gelegenheit beginnen die vorgetragenen Geschichten zu flackern und zu wummern und lassen Mühlau in einem Licht erscheinen, das nicht von dieser Welt ist.

Das Mühlau-Buch ist weit mehr als ein Stadteilführer oder Exzerpt aus der Geschichte. Die einzelnen Pointen sind wahrhaftig recherchiert und real, indem sie aber in einen Spaziergang der Imagination gestellt werden, ergibt sich jenes Schaudern, das ironisch oft als „Mühlauer Trakl-Flair“ bezeichnet wird.

Der „Hausspruch“ der über den Stadtteil gespannt ist und dem Buch als Vorspann dient, stammt aus einem Gedicht, das die damals neunjährige Tochter des Autors geschrieben hat:

„Bunte Wälder – Vögel fliegen – / Kinder lachen – Blumen sprießen – / in Mühlau kann ich es genießen“

Wie alle Spaziergänge bringen auch die Mühlauer Erkundungen Frohsinn und Optimismus, manche verwenden den Stadtteil auch als Therapie, indem sie ihn regelmäßig abschreiten.

Christian Kössler, Von Weltliteratur, Fabriken und gezähmter Wildnis. Sechzehn Spaziergänge durch Mühlau
Innsbruck: Wagner’sche Verlag 2025, 173 Seiten, 14,95 €, Wagner-BN 2025100000093

 

Weiterführende Links:
Wagner’sche Verlag: Christian Kössler, Von Weltliteratur, Fabriken und gezähmter Wildnis
Wikipedia: Christian Kössler

 

Helmuth Schönauer, 12-01-2025

Bibliographie
AutorIn:
Christian Kössler
Buchtitel:
Von Weltliteratur, Fabriken und gezähmter Wildnis. Sechzehn Spaziergänge durch Mühlau
Erscheinungsort:
Innsbruck
Erscheinungsjahr:
2025
Verlag:
Wagner’sche Verlag
Seitenzahl:
173
Preis in EUR:
14,95
ISBN:
Wagner-BN 2025100000093
Kurzbiographie AutorIn:
Christian Kössler, geb. 1975 in Innsbruck, lebt in Innsbruck.