„Dem vorliegenden Buch geht es um eine Synthese dieser beiden Perspektiven. Die erste, horizontale, ist die der Beziehungen zwischen Gesellschaften auf der Erdoberfläche, die der Grenzen und Konflikte, der Verbreitungen und Eroberungen. Die zweite, vertikale, ist die der Domestizierungen, des Bergbaus, der Reisfelder, der Verschmutzungen. Unsere Erzählung verknüpft beide, um mit den Füßen fest auf der Erde zu bleiben. Wir werden Meeresströmungen und Seefahrer kennenlernen, Berge, Wüsten und Eroberer, Bauern und zu kalte Winter …“ (S. 12)
Wie, in welchem Zeitraum und aus welchen Gründen ist die erstaunliche Verbreitung des Menschen über alle Regionen dieser Erde erfolgt und was waren die Ursachen für die unterschiedlichen Dynamiken und Entwicklungsgeschwindigkeiten von Gesellschaften? Diesen Fragen werden in Bezug auf ihre geographischen, klimatischen und gesellschaftlichen Voraussetzungen und Veränderungen gestellt, um Ursachen und Wirkungen auf den historischen Verlauf der Menschheitsgeschichte nachzugehen. Dabei sollen die Erklärungsmodelle Werkzeuge der Geographie für das Verständnis der Vergangenheit fruchtbar gemacht werden.
Grundsätzlich gibt es für jede Gesellschaft Dinge die ihr näher oder ferner stehen. So werden Gesellschaften durch Geschehnisse bei den Nachbarn beeinflusst, sei es ob Friede oder Krieg herrscht oder ob es offene oder geschlossene Grenzen gibt. Das Maß der Vernetzung von Beziehungen zwischen Gesellschaften beeinflussen deren Dynamik, ob sie mehr zur Veränderung oder Erhaltung gesellschaftlicher Grundlagen tendieren.
Gesellschaften unterscheiden sich am offenkundigsten durch ihre Sprache, was auch die Unterschiede zwischen relativ nahen Gesellschaften wie England, Frankreich oder Deutschland zeigen. Dabei wird auf die Puzzle-Metapher als Bild für die Zerstückelung der Menschheit verwiesen. Es zeigt sich, dass die Diversität selbst der gegenwärtigen Gesellschaften erheblich ist. Die politischen und religiösen Lebensweisen und die Arten des Zusammenlebens sind so unterschiedlich, dass sie ein ganzes Spektrum an Konflikten aber auch Durchmischungen mit sich bringen, die wiederum neue Formen entstehen lassen.
Verglichen mit heute, war die Vielfalt in der Vergangenheit um ein Vieles größer, dass sich die sozialen Konfigurationen mit der Sprache der Sozialwissenschaften kaum in Worte lassen. Die Sozialwissenschaft sind in Europa entstanden, um die gesellschaftlichen Entwicklungen in Europa während der letzten drei- bis vierhundert Jahre zu beschreiben. Ihre Instrumentarien eignen sich umso weniger, je weiter man die Grenzen der westlichen Welt verlässt oder in die Vergangenheit zurückgeht.
Dass Menschen in den unterschiedlichsten klimatischen Regionen zu Hause sind, zeigt, dass die Geographie der Gesellschaften nicht auf ökologischen Zwängen beruht, auch wenn sich die Menschen diesen anpassen müssen. Grataloup geht in acht, vornehmlich chronologisch gegliederten Kapiteln der Frage nach dem Einfluss geographischer Gegebenheiten auf die Entwicklung der Menschheit und menschlicher Gesellschaften nach.
Die „Kapitel 1 – Geschichte geografisch lesen“ und „Kapitel 2 – Verbreitung und Zerstreuung der Menschen über die Erde“ setzen sich mit den Ursprüngen der Menschheit und deren Ausbreitung zunächst auf den Kontinenten Afrika, Europa und Asien auseinander.
„Kapitel 3 – Das Lebendige zähmen: aber nur ein paar Arten“ betrachtet den großen Wendepunkt und die Ursachen im Übergang menschlicher Gesellschaften vom Jäger und Sammler zu den Anfängen der Landwirtschaft und Sesshaftigkeit in ihrem räumlichen und zeitlichen Verlauf. „Kapitel 4 – Anderswo, früher: andere Geschichten“ untersucht die Entwicklungen in Europa, Afrika und Asien als Ausgangspunkt der „künftigen globalen Vernetzung“ (S. 101), sowie den amerikanischen und pazifischen Raum.
Die weiteren Abschnitte „Kapitel 5 – Die Geburt der globalen Welt aus der eufrasischen Achse“, „Kapitel 6 – Die Bifurkation der Welt“, „Kapitel 7 – Ein globale Welt, vorübergehend europäisch“ und „Kapitel 8 – Der Menschen Erde“ zeichnen ein Bild der zunehmenden Globalisierung und Verbindung von Gesellschaften und umfassen den Zeitraum von der Antike bis in die Gegenwart.
Christian Grataloup eröffnet mit seinem geographischen Blickwinkel neue und spannende Erkenntnisse auf gesellschaftliche und kulturelle Entwicklungen von den Anfängen der Menschheit bis in die Gegenwart. Dabei werden die Ursachen und Bedingungen für die Sesshaftwerdung von Menschen im Neolithikum ebenso beleuchtet, wie die Bedrohungen der Menschheit durch die ökologische Krise in der Gegenwart.
Ein überaus lesenswertes und informatives Sachbuch mit ebenso spannenden wie neuen Fragestellungen, die neue Sichtweisen und Antworten auf die Geschichte der Menschheit eröffnen. Die klare Struktur und Sprache machen das Sachbuch auf für Laien zu einem eindrucksvollen Lesevergnügen.
Christian Grataloup, Geogeschichte - Die Macht der Geografie in der Weltgeschichte. Übers. v. Stefan Lorenzer [Orig. Titel: Géohistoire. Une autre histoire des humains sur la terre]
München: C.H. Beck Verlag 2025, 390 Seiten, 39,95 €, ISBN 978-3-406-83726-5
Weiterführende Links:
C.H. Beck Verlag: Christian Grataloup, Geogeschichte - Die Macht der Geografie in der Weltgeschichte
Wikipedia: Christian Grataloup (frz.)
Andreas Markt-Huter, 06-11-2025