Für die Aufnahme in den literarischen Klassiker-Kreis braucht es zwei Voraussetzungen: Das Werk muss für Lehrer, Schüler und das Schulwesen gut aufbereitet sein und das Werk muss für die Leserschaft griffbereit und zugänglich sein. Beides ist bei Anita Pichler momentan der Fall, wie im Nachwort stolz vermerkt wird.

Anita Pichlers Erzählung „Wie die Monate das Jahr“ handelt vor allem vom Driften, Abtauchen und Neu-Erwecken einer Geschichte durch die Zeiten und Jahreszeiten. Im Kern geht es um eine kaputte Liebesgeschichte, die anhand einer Abenteuerbiographie aus fernen Zeiten aufgefangen und restauriert werden soll.

Jedes Buch löst in der Leserschaft Reaktionen aus, aber darüber hinaus ergibt sich auch ein Wechselspiel zwischen Leseambiente und Lektüre. Ein Buch über das Sterben wirkt in einem Umfeld voller Apps wischender Kids und in Krimis blätternden Bobos geradezu elementar herausragend.

Der Arzt, Philosoph und Fiktionalist Günther Loewit hat nämlich ein kleines Handbuch über das Sterben geschrieben, worin Elemente eines Sterbe-Lexikons, Fall-Geschichten und Essays zu einem logischen Grundgedanken verknüpft sind. Wenn wir schon über die Geburt halbwegs ausgelassen mit Bräuchen und Feiern herziehen, könnten wir dann nicht auch das Sterben in Würde und Freiheit ins Auge fassen.

In einer Gesellschaft, wo das Vermehren von Kapital als das Non-plus-Ultra des Lebensglückes gilt, versuchen es einige auch mit dem Vermehren der eigenen Identitäten.

Erich Ledersberger versammelt in seinen je nach Lesart neun oder sieben Kurzerzählungen Menschen an jener Kante, wo es vielleicht noch etwas Neues geben soll, in Wirklichkeit bloß noch der Sprung in den Abgrund bleibt.

In ausgeklügelten sozialen Systemen genügt die Nennung der Wohnadresse, um die darin agierenden Personen bereits genauestens zuordnen und aburteilen zu können.

Henrik Tikkanen ist als Angehöriger der schwedisch sprechenden Minderheit in Finnland sehr hellhörig, was Standesdünkel, hohe Nasen und Abschottung gegenüber dem gemeinen Volk betrifft. Sein Roman Brändvögägen 8, Brändö ist der erste der sogenannten Adressbuchtrilogie, in diesen Romanen wird anhand von Musteradressen der jeweilige Lebensstil der Bewohner beschrieben.

Wenn drei außergewöhnliche Künste zusammentreffen, entsteht ein Ereignis, das weit über bloße Drei-D-Qualität hinausgeht.

Der reduktions-radikale Graphic-Novel-Meister Nicolas Mahler widmet sich in seinem Lulu-Fünfakter jener Asymptote, wo die Heldin immer auf das schwarze Quadrat ihrer Psyche stößt. In fünf Modellsituationen verwandelt sich Lulu mit Hilfe des Malers in die eigene Psyche und endet als schwarzes Quadrat.

Große Geschichte lässt sich auch als Gegenprobe erzählen, dabei wird das Nicht-Eingetretene genauso selbstverständlich erzählt wie das Eingetretene. Die sogenannte echte Geschichte wird dabei zuerst plastisch überhöht und dann auf das erträgliche Ausmaß reduziert.

Tuomas Kyrö erzählt die Geschichte Finnlands von 1947-2013 neu, als Bonus gibt es eine Weihnachtsgeschichte, die das Märchenhafte der Gegengeschichte unterstreichen soll. Finnland ist nämlich eine Monarchie, in der König Kunkku zuerst eine rabiate Nachkriegskindheit verbracht und schließlich das Zepter übernommen hat.

Wenn beide Elternteile begraben sind, tritt das Leben in voller Schärfe ans Tageslicht. Jetzt sind die Nachfahren von jeder Erziehung und Kindheit befreit und endlich erwachsen geworden.

In Christine Hochgerners Roman „Der letzte Satz“ begräbt die Heldin nach dem Vater jetzt auch die Mutter, sie ist somit die letzte Überlebende aus dem Familiengeflecht und horcht in sich hinein, wie es sich so anfühlt, wenn man ratzeputz alleine ist. Die Wohnung der Eltern ist in den letzten Jahren zur Pflegestation umfunktioniert worden, jetzt wird sie aufgelöst.

Am Rand des Kontinents hören die Gespräche auf und die Geräusche dienen der Kommunikation mit dem Nichts. Auf dem Weg in das Weiße oder Schwarze dieser Leere trifft der Reporter immer wieder vereinzelte Menschen, die als Außenposten einer Erzählung angesehen werden können.

Thomas Brunnsteiner berichtet in seinen Reportagen von Menschen, die vor Jahrzehnten schon an den Rand verlorengegangen sind, sich selbst ausgesetzt haben oder auf dem Weg dazu sind wie jener LKW-Fahrer, der in seiner Arbeits- und Schlafkapsel ständig zwischen Österreich und Nordschweden hin und her fährt.

Wenn jemand abgekoppelt von allen Mitteln, die zum Leben notwendig sind, sein Dasein fristen muss, lebt er quasi an der Nullstufe der Existenz.

In Szilárd Borbélys Roman „Die Mittellosen“ bewegt sich ein Kind am Rande der Familie, Gesellschaft und Sprache ausschließlich auf jenen Punkt zu, wo es das Dorf verlassen wird. Dieses Dorf ist ein gottvergessener Siedlungshaufen im Nobody-Dreieck Ungarn-Ukraine-Rumänien. Der Ich-Erzähler wächst unter seltsamen Befehlen und Ratschlägen auf, so soll er nie zugeben, dass er Jude ist, wenn schon, dann höchstens Huzule oder Ruthene. (242)

Es ist wie beim berühmten Stein, den man am Wegrand kurz wegdreht, und darunter tummelt sich ein Kosmos von Getier in voller Bewegung.

Xaver Bayer hat den Stein der literarischen Gegenwart kurz umgedreht und darunter wuseln Dutzende Erzählungen, fiktionale Hotspots und Mini-Essays aus den letzten fünfzehn Jahren. Knapp fünfzig Texte lassen sich für den Leser als Geräusche, Gerüchte und Gerüche aus dem Nebenzimmer zusammenfassen. Der Leser steht jeweils im aktuellen Hauptraum seiner Empfindungen und aus dem Nebentrakt tauchen dann plötzlich diese seltsam abgerundeten, beinahe verstümmelten Erzählfragmente auf.