Belletristik und Sachbücher

Christian Kössler, Schatten über dem Inn

h.schoenauer - 26.06.2024

christian kössler, schatten über dem innWer eine Stadt wirklich erkunden will, muss hinter die Fassaden der Häuserzeilen blicken. Während das Navi gute Dienste leistet beim Abschreiten der Objekte, braucht es für die Geister, die dahinter stecken, meist ein Archiv, worin die historischen Seelen gespeichert sind. Die Aufgabe eines Seelen-Erweckers besteht darin, die einzelnen Quellen ausfindig zu machen und ihnen den Stöpsel zu ziehen, um die flüchtigen Gespenster in die Gegenwart zu entlassen.

Christian Kössler hat als Bibliothekar einen sechsten Sinn für makabre, gruselige und hintersinnige Geschichten entwickelt. In regelmäßigen Abständen schreitet er diverse Archivregale ab, nimmt Sagenbücher und Quellen-Schwarten aus dem Regal und zieht den Büchern den Stöpsel. Dadurch entlässt er eingesperrte Geister und tritt mit ihnen anschließend vor einem fröhlichen Publikum auf.

Robert Kleindienst, Das Lied davon

h.schoenauer - 24.06.2024

robert kleindienst, das lied davonWenn jemand eine wortlose Kindheit erfahren hat, wie soll er später davon erzählen? Robert Kleindienst nimmt sich das Schicksal seines Vaters zu Herzen, der einst ziemlich wortlos im Tiroler Oberland bei einer Pflegefamilie aufgenommen und bald darauf in die berüchtigte Bubenburg im Zillertal gesteckt worden ist. Später in Salzburg ist er dann ein geschätzter Musiker geworden, der den Ton der Wortlosigkeit beim Publikum getroffen hat. Offensichtlich lässt sich die Sprachlosigkeit der Nachkriegszeit später mit Musik überwinden.

Der Roman „Das Lied davon“ ist vorerst eine späte Versöhnung des Herumgestoßenen mit der Tiroler Erziehungsluft. In seiner Behutsamkeit stellt er freilich auch ein Muster dar, wie man über eine schwere Kindheit erzählen könnte, ohne dass dabei die einzelnen Sätze zugespitzt abermals verletzend werden.

Günter Zöller, Geschichte der politischen Philosophie

andreas.markt-huter - 21.06.2024

günter Zöller, geschichte der politischen philosophie„Der folgende Abriss der (westlichen) politischen Philosophie in ihrer geschichtlichen Entwicklung von der klassischen Antike über das christlich geprägte Mittelalter bis zur Neuzeit und zu den jüngeren und jüngsten Entwicklungen stellt repräsentative philosophische Positionen zu den Formen und Normen der politischen Gemeinschaft in den jeweiligen Kontext von Staat und Gesellschaft. Durch die Verbindung von politischer Philosophie mit politischer Geschichte soll das philosophische Denken in seinen Zeitbezügen erhellt werden …“ (S. 7)

Günter Zöller bietet einen umfangreichen Abriss in die Geschichte der politischen Philosophie des Abendlandes beginnend mit den wesentlichen Denkern der griechischen und römischen Antike über die Auseinandersetzung mit Herrschaft und Macht im christlichen Mittelalter über die Rückbesinnung auf die Antike in der Neuzeit bis hin zu philosophischen Entwicklungen neuer staatsrechtlicher Grundlagen und Stellungnahmen zu Staat, Freiheit des Bürgers und sozialer Gerechtigkeit in der Gegenwart.

Kurt Lanthaler, Vorabbericht in Sachen der Zona Cesarini

h.schoenauer - 19.06.2024

kurt lanthaler, vorabbericht in sachen der zona cesariniEine Biographie wird umso genauer, je mehr Abschweifmöglichkeiten und Seitenthemen sich entlang des Heldencharakters entwickeln.

Kurt Lanthaler gilt als Meister der „Delta“-Beschreibung. Im Roman „Das Delta“ (2007) verliert sich ein Held im Zwielicht des Po-Deltas, feste Materie geht in Schlamm über, Lungenatmung weicht über Kiemen-Konstrukte aus, der Erzählfaden geht verloren, während sich Geschichten um einen schwimmenden Erzählstandpunkt versammeln.

Im „Vorabbericht in Sachen der Zona Cesarini“ bringt Kurt Lanthaler diese vage Erzähllage zur Perfektion, indem er zwischen Argentinien und Italien, den Zauberkünsten Zirkus und Fußball, und den fixen Heldenposen und entgleisten Fan-Gesten einen „Vorbericht“ installiert. Das Genre Roman lässt er dabei nur gelten, wenn es „hinten offen bleibt“, wie man so schön über das literarisierte Leben sagt.

Klaus Ebner, Klaus Ebner - Podium Porträt 127

h.schoenauer - 18.06.2024

klaus ebner - klaus ebner porträtLiliput ist in seiner Urform eine fiktive Insel in Swifts Roman Gullivers Reisen. Später hat sich unter diesem Namen die Idee durchgesetzt, eine große Welt überschaubar zu machen, indem man sie verkleinert, bis sie auf einem Handteller Platz hat.

In der literarischen Serie „Podium Porträt“ wird die große Welt der Poesie heruntergebrochen auf einen wesentlichen Gedanken, der einer porträtierten Person als Lebensmotto dienen könnte. Das „Liliput“-Format in Postkartengröße und im Umfang von 66 Seiten (wie einst bei den Perry- Rhodan-Heften) ermöglicht es, das jeweilige Porträt als Visiten- und Grußkarte unter Freunden zu verschicken. Und wie in den klassischen Fußballer-Sammlungen von Panini werden die lyrischen Stars mittlerweile gehandelt, gelesen und getauscht.

Willem Elsschot, Tschip

h.schoenauer - 17.06.2024

willem elsschot, tschipSelbst ein Klassiker muss ununterbrochen gepflegt und gegen das Vergessen gebürstet werden. Aufwändig wird diese Pflege, wenn es dazu einer Übersetzung bedarf, die den Ansprüchen von Zeitgeist und Sprachentwicklung entspricht.

Die Leipziger Buchmesse 2024 mit dem Schwerpunkt Niederlande und belgisches Flandern lässt allenthalben die Frage hochkommen: Wer sind die großen Drei der belgischen Literatur? Die Antwort schickt einen sofort an die Regale, um diese zu durchkämmen auf der Suche nach Georges Simenon, Hugo Claus und Willem Elsschot.

„Tschip“ ist ein schmaler Klassiker der grotesken Unterhaltungsliteratur aus dem Jahre 1934. Ein gutsituierter Erzähler beschließt nach jeder Dienstreise hinaus in die weite Welt, zu Hause in Antwerpen sesshaft zu werden und sich für ewig in seinem Haus-Büro einzurichten. Als er sich wieder einmal zu Hause ausstreckt, wird er von einer seltsamen Störung des Hausfriedens heimgesucht.

Franzobel, Einwürfe

h.schoenauer - 15.06.2024

franzobel, einwürfeLiteratur ist Fußball und Fußball ist Literatur. - Diese simple Gleichung, die seinerzeit der Wunder-Germanist Wendelin Schmidt-Dengler formuliert und über sämtliche Alltagsmedien verbreitet hat, ist Kern einer Theorie geworden, der sich eine ganze Generation von österreichischen Schriftstellernden verpflichtet fühlt. Plastischer Ausdruck dafür ist die Gründung des österreichischen Autorenfußballteams, das schreibend in professionellen Trikots auftritt und neben Autogrammen auch literarische Texte schreibt.

Franzobel ist in Theorie, Arbeitsleistung und Können wahrscheinlich der Spitzenmann dieser Doppelkultur Fußball-Literatur. Gekonnt nennt er seine Sportkolumnen „Einwürfe“ und bringt diese tatsächlich jeweils in den passenden Strafraum, der sich im konkreten Fall als Kulturseite der Kleinen Zeitung Graz erweist, von wo aus zum eleganten Torschuss angesetzt werden kann.

Elisabeth Wandeler-Deck, Antigone Blässhuhn Alphabet so nebenher

h.schoenauer - 12.06.2024

elisabeth wandeler-deck, antigone blässhuhn alphabet so nebenherLiteratur ist jene dünne Haut, die sich schützend zwischen Ordnung und Unordnung stellt. Ohne sie gäbe es weder das eine noch das andere, folglich nichts. Die Literatur erschafft somit die Welt, wie wir sie uns vorstellen.

Elisabeth Wandeler-Deck benützt ihre beruflichen Betätigungsfelder als Architektin, Soziologin und Gestaltsanalytikerin, um aus den jeweils fachlich gestützten Sichtweisen einen großen Text zusammenzustellen, der entlang der Kante von Ordnung und Unordnung aufgefädelt ist. Tragendes Element ist dabei das Alphabet, das freilich in einen Nebensatz gedrängt wird. In der Hauptsache geht es um Antigone Blässhuhn, und das Alphabet „geschieht“ nur so nebenher.

Peter Pessl, Ah, das Gasthaus der Wilderness!

h.schoenauer - 10.06.2024

peter pessl, ah das gasthaus der wilderness!Selbst für Leseprofis sind Bücher manchmal vorerst verschlossen wie eine Nuss, man trägt sie als Krähe ein paarmal in die Luft, ehe sie dann aufgeht, wenn man sie richtig zu Boden fallen lässt. Andere nehmen den Text als Stein von Sisyphus und beginnen mit dem Rollen. Die dritten beginnen mit der Einbegleitung, in der letztlich alles drin steht, um in den Text eintreten zu dürfen.

Peter Pessl ist offensichtlich selbst überrascht, worauf er da stößt: „Ah, das Gasthaus der Wilderness!“ Dieses Stück Kultur in der Wildnis fordert den Besucher auf, die gewohnten Sehweisen zu verlassen und der Dramaturgie der vierzig Prosagedichte zu folgen, die gleich nach dem Eintritt auftauchen werden.

J. J. Voskuil, Die Nachbarn

h.schoenauer - 07.06.2024

j. j. voskuil, die nachbarnTrabanten veredeln das Muttergestirn, indem sie unermüdlich darum herumkreisen. In der Literatur veredeln posthume Editionen oft das Hauptwerk, indem sie sich ungeniert als pfiffige Text-Trabanten ausgeben.

J. J. Voskuil ist in der Literaturgeschichte mit einem ungewöhnlichen Titel verankert: „Das Büro“. Darin altert ein Volkskundler vor den Augen der Leserschaft in seinem Büro für Wichtelmänner. Und nach Tausenden Seiten, sieben Bänden und vier Jahrzehnten erzählter Zeit merkt der Leser, dass er im gleichen Maße mit gealtert ist.

Im aktuell erschienenen Roman „Die Nachbarn“ kommt dieses Erzählkonzept abermals zum Zuge, dieses Mal geht es freilich um das Altern und das Verlöschen des Lebenskonzeptes „Ehe“. Herausgefordert wird die Ehe des Erzählers Maarten und seiner Frau Nicolien durch das schwule Paar Peer und Petrus, das als Horror einer Nachbarschaftsbeziehung an den Ehe-Alltag andockt.