Belletristik und Sachbücher

Thomas Schafferer, SELBST. Porträt eines Künstlerlebens

h.schoenauer - 20.01.2025

thomas schafferer, selbstDas Jahr ist ein Teig, aus dem der Künstler unermüdlich seine Kekse heraussticht. Allmählich bildet sich daraus ein Selbst, eingespannt zwischen den Kunst-Schaffenden und den Kunst-Konsumierenden.

Thomas Schafferer arbeitet ein Jahr lang an seinem Selbst, indem er ein strenges Ritual entwickelt, wie der Zeitfluss in einzelne Tageskader aufgelöst werden kann. Im Archivwesen nennt man diese normierten Eingriffe in einen dynamischen Prozess „Formatismus“. Das Format bestimmt dabei den Inhalt, das Containment den Content.

Die Spielregel für SELBST ist als Installationsbeschreibung für eine Kunstaktion zu verstehen, worin Events, Ausstellungen, Lesungen, Buch und Archivierung zu einem Format vereinigt sind.

Simon Konttas, Stille Stunden

h.schoenauer - 15.01.2025

simon konttas, stille stundenStille ist in der Literatur ein magischer Raum, der das Ich umschließt, ohne es zu bedrücken. Im Gegenteil, Stille fordert die Reduktion auf das momentan Wesentliche geradezu heraus. Die Dauer dieses Zustands kann ein paar Tage dauern wie bei der „Stillen Zeit“ um Weihnachten herum, oder einer ganzen Epoche den Stempel aufdrücken, wie in Henry Millers Roman „Stille Tage in Clichy“.

Simon Konttas schickt das lyrische Ich in den Modus von „Stillen Stunden“, die daraus resultierenden Gedichte handeln einerseits von Ereignissen, an denen sich die Stille bricht, andererseits ermöglichen sie den Lesern, selbst die Konsistenz stiller Stunden zu erleben.

Selina Holešinsky, Schaltiere am Waldboden

h.schoenauer - 13.01.2025

selina holesinsky, schaltiere am waldbodenEin Dorf ist in der Fiktion ein gern gesehener Ort, um darin Idylle, Schrecken, Wokeness oder Klimaschutz in Szene zu setzen. Mit Wimmelbildern der Kindheit wird dieser Ort gerne als analoge Wunderwelt dargestellt, worin sich die erwachsen gewordenen Kinder später einmal zurückziehen werden. Die Wirklichkeit ist freilich auch in Romanen alles andere als eine heile Welt.

Selina Holešinsky zeigt im Roman „Schaltiere am Waldboden“ die heranwachsende Antonie, im elterlichen Kosenamen Marillchen genannt, wie sie zwischen Mutti und Vati im Aussteigerdorf „Autofrei“ groß werden muss. Das Gesellschaftsleben oszilliert zwischen intellektueller Idylle, Sektenideologie und haptisch erfahrbarem Bilderbuchgefühl. Die Ich-Erzählerin nimmt die Welt wörtlich und einmalig, wie es alle Heranwachsenden tun müssen, die zu sich selbst keine alternativen Erfahrungen sammeln können.

Minu Ghedina, Am Rande das Licht

h.schoenauer - 09.01.2025

minu ghedina, am rande das lichtKunst kann zur Erbkrankheit werden, wenn man als Kind im Licht großer Künstlereltern aufwachsen muss. Minu Ghedina spielt im Künstlerroman „Am Rande das Licht“ mit dem Wechselspiel von eigener Entwicklung und allgemeinem Anspruch in der Gesellschaft. Wie lässt sich der Rand eines Bildes ausleuchten, ohne dass das Auge vom Bannstrahl der mediokren Mitte verbrannt wird?

Künstlerromane firmieren oft als Comingout-Romane, wenn es den Individuen gelingt, im Kunstbetrieb heimisch zu werden. Andererseits gleichen diese Biographien durchaus fehlgeleiteten Brüt-Vorgängen, die keine Künstlerkarriere ausschlüpfen lassen. Sarkastisch formuliert: Die Pubertät des Künstlers dauert bis ins fünfundzwanzigste Lebensjahr, ehe das Geschöpf normiert ist und einen seriösen Beruf ergreift.

Lina Hofstädter, Trauerbüchlein

h.schoenauer - 07.01.2025

lina hofstädter, trauerbüchleinDas Jahr ist um, die Trauer bleibt. – Zwischen der lakonischen Brisanz eines Oswald von Wolkenstein, wenn dieser seinem abgeernteten Leben als verlöschender Ritter zuschaut, und der hartnäckigen Melancholie, wie sie der Blues den Jahreszeiten der Natur abringt, bewegen sich die Gedichte des Trauerbüchleins.

Lina Hofstädter stiftet fünf Jahre nach dem Tod des Künstlers Kassian Erhart sich selbst und anderen, die einen Verlust zu beklagen haben, Trost und Impuls-Pflaster für jene Verwundungen, die jäh aufbrechen, etwa beim Anblick eines Vogels, der sich ins Sichtfeld geschlichen hat. „Todestag 1 // Heute am Morgen lag da / Der kleine Vogel / Mit roter Brust / Zu Mittag lagst du / Jetzt liege ich / Und warte / Warte …“ (7)

Hannes Hofinger, Die Leiche in der Löwengrube in St. Johann in Tirol

h.schoenauer - 01.01.2025

hannes hofinger, die leiche in der löwengrubeKrimi ist als Genre und Gesellschaftstreiben die am häufigsten verwendete Kategorie, um sich  purem Vergnügen oder Verbrechen hinzugeben. – Die literarische Sorte Krimi spendet unter Garantie einen Roman mit Handlung, der wegen seiner klugen Gliederung ein ständiges Absetzen und Wiederaufnehmen von Lektüre ermöglicht.

Da die meisten Krimis heutzutage mit KI geschrieben sind, wird es nicht mehr lange dauern, bis auch die Leser eine KI verwenden, um möglichst viele Krimis ohne Aufwand zu bewältigen.
Hannes Hofingers Krimi von „Der Leiche in der Löwengrube“ wird von zwei Zugängen gespeist:
  a) das Genre Krimi wird an die Grenze der Groteske und süffisanten Überschätzung geführt,
  b) das Treiben der Gemeinde wird als Hotspot krimineller Machenschaften gezeigt, die als Tagesgeschäft getarnt sind.

Margit Weiß, Maddalena geht

h.schoenauer - 27.12.2024

margit weiss, maddalena gehtJeder Auftritt kann das Ende oder den Anfang bedeuten. – Jenseits aller Geschichtsschreibung sind es die Hebammen, die in einem Tal das Leben auf die Welt bringen oder den Tod dokumentieren.

Margit Weiß erzählt am Beispiel der historisch abgesicherten Biographie der Hebamme Maddalena Decassian, wie um 1900 ladinische Täler eher einer Sagenwelt verpflichtet sind als einer aufgeklärten Notwendigkeit, die Wahrheit auch einmal in Echtzeit auszusprechen.

Zu Beginn rast gleichsam die Hebamme von einer Geburt zur nächsten, meist geht alles zumindest biologisch gut, manchmal gilt es auch, ein totes Kind zu vermelden getreu einer alten Hebammenweisheit: „Du musst aufhören, den Tod und das Leiden zu bekämpfen. Sie sind stärker als du.“ (245)

Michael Stavarič, Die Suche nach dem Ende der Dunkelheit

h.schoenauer - 22.12.2024

michael stavaric, die  suche nach dem ende der dunkelheit„Wir verhielten uns wie Grasbüschel, die überall dort auftauchten, wo es ihnen gefiel. In den Fugen zwischen den Betonplatten.“ (27)

Michael Stavarič gilt als Meister fragiler Texte über das vergebliche Heimisch-Werden zwischen Orten und Kulturen. Nach seiner Theorie kann ein Individuum noch innerhalb des Ortsschildes zu einem ausgestoßenen Wesen werden, während es andererseits an einem Ort, an dem es noch nie gewesen ist, bodenständig werden kann. Diese migrantische Bewegung gilt auch für literarische Genres. Der Autor ist überall zu Hause und doch nirgends sesshaft abgelegt.

Die Gedichte sind selbst Fabelwesen der Literatur, wenn sie von einem „Wir“ berichten, das in erster Linie einen getragenen, suchenden Ton vor sich herschiebt. Diesen Kommentar-Ton kennen wir aus Reisedokumentationen im Fernsehen, wenn Redakteure sich auf fremden Hochzeiten in entlegenen Ländern mit Einheimischen verbünden, um im kollektiven Wir zu berichten, dass auf Reisen alle optimistisch gelaunt sind.

Eleonore Weber, Landkarte im Maßstab 1:1

h.schoenauer - 20.12.2024

elonore weber, landkarte im maßstab 1 zu 1Die größte Glaubwürdigkeit über die Verfasstheit einer Botschaft, Nachricht oder Erzählung erweckt die Zauberformel 1: 1. Nicht nur vor Gericht erweckt eine Aussage große Authentizität, wenn sie angeblich im Maßstab 1:1 wiedergegeben wird, auch in der Weltliteratur erreicht die Glaubwürdigkeit beim Erzählen ihren Peak, als Jorges Luis Borges von einer Landkarte 1:1 spricht, die durch ihre Maßzahl an Genauigkeit nicht übertroffen werden kann. Von dieser Überlegung leitet sich auch die These ab, dass die ideale Bibliothek eins zu eins der Welt entsprechen müsse, um sie abzubilden.

Eleonore Weber erweitert diesen Gedankengang mit ihrer Sammlung von zwölf Geschichten, die diesem magischen 1:1 unterworfen sind. Eine ideale Erzählung gleicht daher in ihrer Dauer dem erzählten Stoff, eine darin eingewobene ideale Zeichnung entspricht in Größe und Schraffur dem abgezeichneten Original, und auf der Netzhaut sollten Land und Karte den gleichen Reiz für das Gehirn auslösen.

Ludwig Roman Fleischer, Anamnesen

h.schoenauer - 16.12.2024

ludwig roman fleischer, anamnesenDie beiden wichtigsten literarischen Genres in Österreich sind Amnesie und Anamnese. Im einen Fall wird alles ausgeblendet, was das Wohlbefinden stört, im andern Fall alles geadelt, was zu einer Krankheit führt. So sind im öffentlichen Bereich die Krankengeschichten stärker verbreitet als andernorts die Kriminalgeschichten.

Ludwig Roman Fleischer fischt seine Helden aus einem Berg von Krankengeschichten, verstörenden Befunden und schön geredeten Desastern heraus, wobei er unter Anamnese nicht nur die Vorerkrankungen einer heldenhaften Person versteht, sondern auch die Krankengeschichte eines Landes, einer Gesellschaft, ja der Geschichte überhaupt. Im Sinne der Erzählung „Amras“ von Thomas Bernhard ist Geschichte nämlich Krankheit.

In zwanzig Geschichten vom Kranksein kommt allmählich eine Gesamt-Anamnese heraus, die ob ihrer Groteske jeden zum Schmunzeln bringt, der diese Befunde in die Finger kriegt. Die ausgewählten Krankengeschichten reichen in ihrer Entstehung bis an die Jahrtausendwende zurück und zeigen daher beinahe im Jahresrhythmus, wie krank die Gesellschaft ist. Oder im Volksmund formuliert: Irgendwer ist immer krank!