Belletristik und Sachbücher

Nicolas Mahler, Lulu und das schwarze Quadrat

h.schoenauer - 21.05.2015

Wenn drei außergewöhnliche Künste zusammentreffen, entsteht ein Ereignis, das weit über bloße Drei-D-Qualität hinausgeht.

Der reduktions-radikale Graphic-Novel-Meister Nicolas Mahler widmet sich in seinem Lulu-Fünfakter jener Asymptote, wo die Heldin immer auf das schwarze Quadrat ihrer Psyche stößt. In fünf Modellsituationen verwandelt sich Lulu mit Hilfe des Malers in die eigene Psyche und endet als schwarzes Quadrat.

Tuomas Kyrö, Kunkku

h.schoenauer - 19.05.2015

Große Geschichte lässt sich auch als Gegenprobe erzählen, dabei wird das Nicht-Eingetretene genauso selbstverständlich erzählt wie das Eingetretene. Die sogenannte echte Geschichte wird dabei zuerst plastisch überhöht und dann auf das erträgliche Ausmaß reduziert.

Tuomas Kyrö erzählt die Geschichte Finnlands von 1947-2013 neu, als Bonus gibt es eine Weihnachtsgeschichte, die das Märchenhafte der Gegengeschichte unterstreichen soll. Finnland ist nämlich eine Monarchie, in der König Kunkku zuerst eine rabiate Nachkriegskindheit verbracht und schließlich das Zepter übernommen hat.

Christine Hochgerner, Der letzte Satz

h.schoenauer - 17.05.2015

Wenn beide Elternteile begraben sind, tritt das Leben in voller Schärfe ans Tageslicht. Jetzt sind die Nachfahren von jeder Erziehung und Kindheit befreit und endlich erwachsen geworden.

In Christine Hochgerners Roman „Der letzte Satz“ begräbt die Heldin nach dem Vater jetzt auch die Mutter, sie ist somit die letzte Überlebende aus dem Familiengeflecht und horcht in sich hinein, wie es sich so anfühlt, wenn man ratzeputz alleine ist. Die Wohnung der Eltern ist in den letzten Jahren zur Pflegestation umfunktioniert worden, jetzt wird sie aufgelöst.

Dietmar Füssel, Menschenfleisch

h.schoenauer - 14.05.2015

In der Literatur ist das Menschenfleisch unlösbar mit dem Rübezahl verknüpft, der in eine Hütte eindringt und die unsterblichen Worte ruft: Ich rieche, rieche Menschenfleisch!

Ähnlich abrupt tritt Dietmar Füssel in die diversen Szenarien menschlicher Schwächen ein und riecht die Situationen mit kalter Lyrik-Schnauze ab. In einer Mischung aus Auszählreim, Flegel-Gedicht oder Altherren-Spucke nimmt er die jeweiligen Situationen auf die Reimschaufel und macht schön geordnete Häufchen daraus.

Thomas Brunnsteiner, Bis ins Eismeer

h.schoenauer - 12.05.2015

Am Rand des Kontinents hören die Gespräche auf und die Geräusche dienen der Kommunikation mit dem Nichts. Auf dem Weg in das Weiße oder Schwarze dieser Leere trifft der Reporter immer wieder vereinzelte Menschen, die als Außenposten einer Erzählung angesehen werden können.

Thomas Brunnsteiner berichtet in seinen Reportagen von Menschen, die vor Jahrzehnten schon an den Rand verlorengegangen sind, sich selbst ausgesetzt haben oder auf dem Weg dazu sind wie jener LKW-Fahrer, der in seiner Arbeits- und Schlafkapsel ständig zwischen Österreich und Nordschweden hin und her fährt.

Szilárd Borbély, Die Mittellosen

h.schoenauer - 10.05.2015

Wenn jemand abgekoppelt von allen Mitteln, die zum Leben notwendig sind, sein Dasein fristen muss, lebt er quasi an der Nullstufe der Existenz.

In Szilárd Borbélys Roman „Die Mittellosen“ bewegt sich ein Kind am Rande der Familie, Gesellschaft und Sprache ausschließlich auf jenen Punkt zu, wo es das Dorf verlassen wird. Dieses Dorf ist ein gottvergessener Siedlungshaufen im Nobody-Dreieck Ungarn-Ukraine-Rumänien. Der Ich-Erzähler wächst unter seltsamen Befehlen und Ratschlägen auf, so soll er nie zugeben, dass er Jude ist, wenn schon, dann höchstens Huzule oder Ruthene. (242)

Xaver Bayer, Aus dem Nebenzimmer

h.schoenauer - 07.05.2015

Es ist wie beim berühmten Stein, den man am Wegrand kurz wegdreht, und darunter tummelt sich ein Kosmos von Getier in voller Bewegung.

Xaver Bayer hat den Stein der literarischen Gegenwart kurz umgedreht und darunter wuseln Dutzende Erzählungen, fiktionale Hotspots und Mini-Essays aus den letzten fünfzehn Jahren. Knapp fünfzig Texte lassen sich für den Leser als Geräusche, Gerüchte und Gerüche aus dem Nebenzimmer zusammenfassen. Der Leser steht jeweils im aktuellen Hauptraum seiner Empfindungen und aus dem Nebentrakt tauchen dann plötzlich diese seltsam abgerundeten, beinahe verstümmelten Erzählfragmente auf.

Thomas Piketty, Das Kapital im 21. Jahrhundert

andreas.markt-huter - 05.05.2015

„Dennoch glaube ich, dass Forscher aus den Sozialwissenschaften wie allen anderen Disziplinen, Journalisten und Kommentatoren sämtlicher Medien, Gewerkschaftler und politische Aktivisten aller Richtungen, und vor allem sämtliche Bürger ernsthaft über Geld nachdenken sollten […]. Diejenigen, die viel davon haben, werden gewiss nicht vergessen, ihre Interessen zu verteidigen. Von den Zahlen nichts wissen zu wollen, dient selten der Sache der Ärmsten.“ (793)

„Das Kapital im 21. Jahrhundert“ bietet wirtschafts-historische Erklärungen für Erfahrungen, die ein großer Teil der Bevölkerung bereits seit längerer Zeit selbst unmittelbar spüren kann: Die finanziellen Möglichkeiten der breiten Schicht der Bevölkerung werden zunehmend geringer, die Einkommensschere zwischen Arm und Reich klafft immer weiter auseinander.

Jurij Wynnytschuk, Im Schatten der Mohnblüte

h.schoenauer - 03.05.2015

Städte historischer Verdichtung sind immer auch mit Gewalt konfrontiert. Die ukrainische Stadt Lviv ist im letzten Jahrhundert stets auch ein Ort brachialer Vernichtung gewesen, so dass man Übersetzungen aus dieser Stadt gerne etwas abmildert. Aus dem „Tango des Todes“ ist im Deutschen jetzt das Proust-sachte „Im Schatten der Mohnblüte“ geworden.

Jurij Wynnytschuk schreibt die Geschichte Lvivs durch die letzten achtzig Jahre auf. Eine Achse läuft in den Kapitelüberschriften die Buchstaben A-Z entlang und erzählt von den Ereignissen während des zweiten Weltkriegs, als die Stadt mehrmals den Wechsel der Besatzer aushalten muss. Eine zweite Achse ist nummerisch von 1-31 aufgefädelt und zeigt einen Forscher aus der Gegenwart, der aus der Zeit aussteigt und sich dem Phänomen verschollener Todes-Melodien kümmert.

Peter Steiner, Der Sandfallenbauer

h.schoenauer - 30.04.2015

Nur selten gelingt es einem Helden, das abgehangene Spätlebensalter als geerdetes Kind auf einem Traktor zu verbringen und dabei die Leser zu verzücken.

Peter Steiners Roman vom „Sandfallenbauer“ ist beinahe ein Märchen vom geglückten Leben. Der Ich-Erzähler hat sein Leben in allen Weltteilen als Geologe und Gesteinserkunder verbracht, er kann die Erde lesen mit ihren Faltungen, Ritzen und Verwürfen. Jetzt für den Lebensabend hat er sich mitten in Amerika ein Stück unbebautes Land zugelegt und verbringt mit seiner Frau die Tage hautnah an den Poren der Erdkruste.