Belletristik und Sachbücher

Markus Bundi, Wirklichkeit im Nachsitzen

h.schoenauer - 07.12.2020

markus bundi, wirklichkeit im nachsitzenIn einer sarkastischen Einschätzung der Germanistik muss man natürlich die Freiheit von Forschung und Lehre loben. Da es sich bei der Germanistik aber in der Hauptsache um eine Wissenschaft handelt, die sich ausschließlich mit sich selbst beschäftigt, muss man ihr von Zeit zu Zeit Themen der Gesellschaft vorgeben, damit sie den Anschluss an die Welt nicht gänzlich verliert.

In Tirol hat man viel Geld ausgegeben, um einen Einheitsverlag zu forcieren, der die offizielle Politik literarisch unterstützt. Außerdem fließt viel Geld in die Nach- und Vorlässe, die natürlich Renditen abwerfen müssen. Wenn diese Kisten schon einmal herumstehen, sollen sich die Germanisten damit beschäftigen, damit sie nicht auf andere blöde Gedanken kommen.

Friedrich Hahn, Sonja und die weißen Schatten

andreas.markt-huter - 04.12.2020

friedrich hahn, sonja und die weißen schattenSchade, dass es im echten Leben keinen schnellen Vorlauf gibt! - Erwachsenwerden besteht vielleicht darin, die richtige Geschwindigkeit für das eigene Lebensvideo zu finden.

Friedrich Hahn führt seine Protagonisten meist an diese dünne Sollbruchstelle heran, die reißen muss, will man etwas vom Wirklichen erfahren. Erzähltechnisch nimmt er es mit dem Trash des Alltags auf und baut dabei therapeutische Sätze ein, die sowohl den Helden als auch dem Leser an entscheidender Stelle weiterhelfen.

Peter Henisch, Siebeneinhalb Leben

andreas.markt-huter - 02.12.2020

peter henisch, siebeneinhalb lebenDer Rentner-Roman ist zwar weit verbreitet, wird aber kaum als solcher kaum mit dem Mund ausgesprochen. Denn in der Literatur geht es oft um beratende Geschäfte, und wer will schon einem Kunden zumuten, dass er einen Rentner-Roman lesen soll. In der Literatur nämlich gibt es keine Rentner, da alle entweder schreiben, lesen oder was verkaufen.

Peter Henisch quälen solche Gattungs-Diskurse nicht, er nennt seinen Roman Siebeneinhalb Leben, und wenn man das Komma dabei richtig setzt, kommt ein Geburtstagsroman zum Fünfundsiebzigsten heraus. Und seine Romane sind immer deshalb aufregend, weil auf der Oberfläche fast nichts passiert, außer dass jemand sein Gesicht in die Gegend hält, aus dem Fenster schaut, eine Katze streichelt oder ein altes Bild updatet.

Andrea Winkler, Die Frau auf meiner Schulter

andreas.markt-huter - 30.11.2020

andrea winkler, die frau auf meiner SchulterGute Romane lösen schon im Titel ein Rätsel oder gar eine Geschichte aus. Die Frau auf meiner Schulter ist vielleicht ein Lebensentwurf, der auf der Erzählerin sitzt wie die Welt auf dem mythologischen Atlas.

Andrea Winkler lässt im Roman „Die Frau auf meiner Schulter“ auf engstem Erzählraum eine Erzählerin zu sich selbst kommen, indem sie sich eine poetisch-therapeutische Auszeit nimmt. In der vernetzten Gesellschaft ist mittlerweile selbst das Aussteigen daraus ritualisiert und zu einem Geschäftsmodell geworden.

Gerald Murnane, Die Ebenen

andreas.markt-huter - 27.11.2020

gerald murnane, die ebenenAls die Erde noch eine Scheibe ist, ist die Ebene so etwas wie die ganze plane Welt, die man sich vorstellen kann. Später wird aus den Ebenen etwas Geographisches, worin sich vorzüglich Schlachten abwickeln lassen, das Kind spielt mit der Ebene, worin es diverse Figuren aufstellt und schließlich sind wir Literaturmenschen immer hingerissen von den Ebenen. Spielebene, Sprachebene, Metaebene, an manchen Tagen verlieren wir uns beim Lesen darin.

Gerald Murnane wohnt in einem Land, das aus einer einzigen Ebene besteht und laut Lebenslauf hat er diese Fläche nie verlassen, sondern alles, was er braucht, in sie hineinprojiziert. „Die Ebenen“ sind ein rätselhafter Roman, der viel mehr Fragen offen lässt, als er zu Lebzeiten der Lektüre zu beantworten gewillt ist. Der Roman ist eine Kulturgeschichte, ein Schöpfungsbericht, ein Abenteuerroman über die Verteidigung von Besitzständen und ein dramatisch-inniger Versuch, der inneren Peripherie Australiens eine Identität zu geben.

Oksana Sabuschko, Der lange Abschied von der Angst

andreas.markt-huter - 25.11.2020

oksana sabuschko, der lange abschied von der angstWenn man schon von Nationalliteratur spricht, die ein Land retten und aufrichten kann, dann müsste man diese Literatur fallweise therapieren und auf Reha schicken, wenn sie krank oder deprimiert ist.

Oksana Sabuschko nimmt einen Terroranschlag in Paris zum Anlass, um anhand von öffentlichen Gefühlen den Zustand der französischen und ukrainischen Angstbewältigung in Diskussion zu stellen. Nach den diversen Revolutionen in der Ukraine stellt die Autorin fest, dass das Kernthema allmählich öffentlich diskutiert wird. Die Kolonialisierung der Ukraine durch die Sowjetunion hat nämlich über Generationen hinweg zu Angst und dem Lefortowo-Syndrom geführt, benannt nach dem berüchtigten Moskauer Gefängnis.

Paolo Rumiz, Die Seele des Flusses

andreas.markt-huter - 23.11.2020

paolo rumiz, die seele des flussesWitze mit dem Po sind so selten und gut, dass man während seines Leser-Lebens keinen einzigen versäumen möchte. Mit dem Po durch ein unbekanntes Italien wäre sicher frech, weil der Hintern als zusätzliches Sinnesorgan eingesetzt sein könnte. Leider ist die Literatur im entscheidenden Augenblick oft humorlos, Po heißt natürlich der Fluss und sonst nichts.

Zumal Paolo Rumiz ein ernsthafter Reisender und Mitschreibender ist. Er macht seine Reisen nur, damit er was zum Schreiben hat, und schreibt nur, damit er wieder reisen kann. Die Seele des Flusses ist somit eine Flusswanderung von der Quelle bis ins Delta, voller Hinhören, Hinschauen, Hinschmecken, denn es wird ja ausgiebig degustiert, wenn man das Ufer hinaufkrabbelt in eine Taverne.

Judith Gruber-Rizy, Eines Tages verschwand Karola

andreas.markt-huter - 20.11.2020

judith gruber-rizy, eines tages verschwand karolaDie höchste Erzählkunst muss immer dann aufgebracht werden, wenn es um das Verschwinden geht. Dabei handelt es sich um ein Paradoxon. Je mehr etwas verschwinden soll, umso höher ist der Aufwand an konkreten Sätzen, der das Verschwinden besiegeln soll.

Judith Gruber-Rizy verwendet die Vorgänge rund ums Verschwinden, um dadurch eine halbwegs plastische Biographie in die Gänge zu bekommen. In der Germanistik steht die Verschwindens-Theorie hoch im Kurs, man denke etwa an Alfred Anderschs „Mein Verschwinden in Providence“ oder Gerhard Amanshausers unermüdliche Versuche, das Ich durch Erzählen mundtot und zum Verschwinden zu kriegen.

Andrej Platonow, Tschewengur

andreas.markt-huter - 18.11.2020

andrej platonow, tschewengurBin ich vielleicht Schriftsteller oder was? - Ein Funktionär mitten in der Steppe Russlands ist ganz verzweifelt, dass er den Sozialismus nicht nur organisieren, sondern auch noch erklären soll. (270)

Andrej Platonow stellt dem Funktionär den Schriftsteller nicht als Genossen an die Seite, sondern dieser hat mit der Beschreibung die Politik zu kontrollieren und voranzutreiben, wenn nicht gar alle in eine bessere Zukunft zu hetzen.

Andreas Unterweger, Grungy Nuts

andreas.markt-huter - 16.11.2020

andreas unterweger, grungy nutsGrob umschrieben könnten Grungy Nuts ein Haufen voll dreckiger Nüsse sein, die man vielleicht sogar vom Boden aufgeklaubt hat und die wahrscheinlich weder nach Art noch nach Reifezustand sortiert sind. Ein ideales Bild für eine Erzählform, in der sich herbei-komponierter Zufall und ironische Absicht die Waage halten.

Andreas Unterweger betreibt einen ziemlichen Aufwand an ordnenden Maßnahmen, um das Diffuse, Schrundige, Schmuddelige seiner Erzählungen in eine Fasson zu kriegen. So sind die Erzählungen im ersten Überblick abgeschlossene Ereignisse mit einem festen Figuren-Set, aber bald einmal fransen diese Ereignisse aus und laufen über in die nächste Erzählung, die wie eine Auffang-Schüssel unter den vorhergehenden Text gestellt ist. Was in der einen Erzählung nicht Platz hat, läuft über und wird in der nächsten aufgefangen. Pathetisch könnte man vom Römischen Brunnen sprechen, wo das Wasser ja auch gleichzeitig steht und rinnt.