Annemarie Regensburger, Gewachsen im Schatten

Was wie eine edle Herkunftsbezeichnung eines raren Weines klingt, hat bei der Beschreibung des eigenen Lebens natürlich schattige und dunkle Seiten.

Annemarie Regensburger erzählt in ihrer Geschichte einer Befreiung durchaus autobiographisch, sie setzt das Persönliche in ein Album der Zeitgeschichte und stabilisiert das Individuelle durch einen kommentierenden Erzählstil, sodass Gesellschaftspolitik, Leben der Hauptfigur und fiktionale Träume und Überlegungen ins allgemein Interessante transferiert werden.

Im Anschluss an die Geschichte hat Annemarie Regensburger einen Stammbaum gepflanzt, auf dem wie bei großen Dynastien die Verästelungen von kleinen Schicksalen am Rande der Gesellschaft gezeigt werden.

Die vier Epochen der Heldin halten sich an die einschneidenden biographischen Ereignisse: Kindheit, Jugend, Lehre und Arbeit als Köchin im Kloster. In allen Abschnitten ist die offizielle Sprache eine andere, als es die tatsächlichen Verhältnisse sind. Das kann vom Widerstand in den eigenen Reihen bis zur Bigotterie im Kirchenraum gehen.

Der Vater beispielsweise muss das Hitlerbild aufhängen, auf der Rückseite freilich klebt er ein Dollfuß-Konterfei auf. Wie man am Stammbaum sieht, gehen nicht alle Verhältnisse geradlinig vonstatten, immer wieder zeichnen die Vermehrungslinien seltsame Kurven in das moralisch geradlinige Gebilde.

Vater leidet an Schizophrenie, aber mit allen Tricks vertuscht man seine Krankheit, denn der gesunde Schein ist oft das einzige, was einen aufrecht hält.
Das Mädchen lernt früh durch die Literatur, dass man diesen Ungereimtheiten mit einem fiktionalen Programm auf die Schliche kommen kann. Die Befreiung geschieht dann durch schreiben: Nicht mehr den Mund halten, schreiben! (178)

Die Heldin setzt sich mit der Frauenbewegung in Tirol auseinander, hält trotz Krankheit eisern in der Klosterküche durch, und empfindet es als Befreiung, als sie immer mehr zu Schullesungen eingeladen wird und literarisch Fuß fasst.

Annemarie Regensburger erzählt gefasst, äußere Umstände wie Reisen ans Meer und Bilder von schwerelosen Segelboten helfen dabei, die harten Fakten auf ein Hubkissen der Analyse zu betten. Tagebucheintragungen, ausgefüllte Fragebögen zur Lage der Jugend im Österreich der fünfziger Jahre sowie Schlagzeilen und Presse-Ausrisse vermitteln ein Sittenbild der Tiroler Jugend in einer scheinbar prosperierenden Zeit. Auf der Fahrt zu den Liparischen Inseln gelingt es allmählich Ich zu sagen und die eigene Identität zu entdecken.

Annemarie Regensburgers Geschichte der Befreiung erzählt jenseits der Wochenschauen vom Leben jener, die auf der Schattseite groß geworden sind im wahrsten Sinne des Wortes groß.

Annemarie Regensburger, Gewachsen im Schatten. Geschichte einer Befreiung.
Innsbruck: Tyrolia 2013. 222 Seiten. EUR 21,90. ISBN 978-3-7022-3301-3.

 

Weiterführende Links:
Tyrolia Verlag: Annemarie Regensburger, Gewachsen im Schatten
Homepage: Annemarie Regensburger

 

Helmuth Schönauer, 16-10-2013

Bibliographie

AutorIn

Annemarie Regensburger

Buchtitel

Gewachsen im Schatten. Geschichte einer Befreiung

Erscheinungsort

Innsbruck

Erscheinungsjahr

2013

Verlag

Tyrolia Verlag

Seitenzahl

222

Preis in EUR

21,90

ISBN

978-3-7022-3301-3

Kurzbiographie AutorIn

Annemarie Regensburger, geb. 1948 in Stams, lebt in Imst.