Michael Forcher, Tirol und der Erste Weltkrieg

Was der Bestsellerautor Christopher Clark mit seinen „Schlafwandlern“ über den Ersten Weltkrieg ist, ist „Der Forcher“ für Tirol mit seiner bewegenden Darstellung des Weltkrieges aus Tiroler Sicht.

Michael Forscher ist leidenschaftlicher Historiker genug, damit er weiß, dass sich nicht erzählbare Dinge nur darstellen lassen, wenn man sie quasi wie dokumentierte Rollen sich selbst erzählen lässt. Der Autor bereitet dabei die Quellen aus und ist gerecht, indem er alle zu Wort kommen lässt. Und so kommt heraus, dass alle bis hinauf zum Feldherren Conrad fassungslos den Geschehnissen gegenüber stehen. Bloß kann der Oberste diesen Sprung im Kopf überwinden, indem er einfach selbst noch seine Biographie nach dem Krieg zurecht biegt.

Der Krieg wütet für alle desaströs und unbegreiflich, den Tirolern freilich gehen dabei gleich mannigfaltig die Augen auf. So sitzt der vom Kaiser selbst ausgewählte Feind zuerst nicht in Serbien sondern in Galizien, wo die Tiroler plötzlich Gott, Kaiser und Vaterland verteidigen sollen. Prominentestes Opfer dieses Einsatzes ist Georg Trakl, der mit dem Gedicht Grodek Schluss mit allem macht.

Die nächste Überraschung für die Tiroler ist die künstliche Aufspaltung in gute und schlechte Untertanen. Durch den Kriegseintritt Italiens werden alle Nicht-Deutschsprachigen plötzlich zu Feinden, obwohl man Jahrhunderte lang nachbarschaftlich zusammen gewohnt hat.

Die Berg-Gläubigen trifft es besonders hart, als man die Gipfel einfach in die Luft sprengt ohne Ehrfurcht und Achtung vor der Nähe Gottes. Dass dabei auch die Menschen in die Luft gehen, ist ein Nebeneffekt, der abgestumpft zur Kenntnis genommen wird.

Was Hunger, Ungewissheit, Vertreibung und Abstumpfung nicht schaffen, schafft dann die österreichische Bürokratie, die schon in Friedenszeiten weltmeisterlich danebensteht. Mit der Wirkung des Militär-Rechtes tritt quasi das Faustrecht in Kraft, Zensur, Zynismus und Eigenvorteil lassen die Verwaltung zu einem brutalen Finale aufmarschieren.

Als schließlich die Brenner-Grenze installiert wird, schauen noch einmal alle verdutzt, aber angesichts der irrealen Ereignisse des Weltkrieges ist diese Grenze fast schon wieder etwas Normales.

Michael Forcher lässt die Kriegsjahre aus Tiroler Sicht Revue passieren, im Sinne eines aktuellen Journals sind die wichtigsten Lage-Skizzen eingeblendet. Kleine Bilder aus dem Alltag machen das Unglück fest, indem sich jemand noch schnell ablichten lässt, ehe es an die Front geht, jemand aus einem Stacheldraht herauslugt, jemand vor irgendwas salutiert, das ihn in diese Lage gebracht hat.

Ein bemerkenswertes Kapitel widmet sich den Künsten, worin einerseits die Dichter zuerst zum Schlachten aufrufen und hinten nach die Maler die Schlachtfelder als Selbst-Therapie abzumalen versuchen.

Neben vielen Einzelheiten, die man immer wieder nachschlagen kann, bleibt ein Sound, der einen beinahe aufregt. Vieles von Verwaltung, Nationalismus, politischer Verlogenheit ist trotz aller schönen Worte heute noch vorhanden und niemand kann sich sicher sein, ob sich nicht wieder ein solches Desaster ins Land schleicht, freilich im Sinne der Geschichte dann als Groteske. Michael Forcher weckt mit seiner Darstellung die allzu Sicheren auf, dass sie nicht ins nächste Unglück hinüber dösen.

Michael Forcher, Tirol und der Erste Weltkrieg. Ereignisse, Hintergründe, Schicksale
Innsbruck: Haymon 2014 ( = Haymon TB 164), 446 Seiten, 13,95 €, ISBN 978-3-85218-964-2

 

Weiterführende Links:
Haymon Verlag: Michael Forcher, Tirol und der Erste Weltkrieg
Wikipedia: Michael Forcher

 

Helmuth Schönauer, 15-05-2015

Bibliographie

AutorIn

Michael Forcher

Buchtitel

Tirol und der Erste Weltkrieg. Ereignisse, Hintergründe, Schicksale

Erscheinungsort

Innsbruck

Erscheinungsjahr

2014

Verlag

Haymon Verlag

Seitenzahl

446

Preis in EUR

13,95

ISBN

978-3-85218-964-2

Kurzbiographie AutorIn

Michael Forcher, geb. 1941 in Lienz, lebt in Innsbruck.