Thilo P. Lassak, Der blutrote Kolibri

"Die goldene Maske hatte wieder die Wahrheit gesprochen. Die erste Prophezeiung war eingetroffen. Damit die zweite Prophezeiung nicht auch noch wahr wurde, hatte Kapnu Singa diesen halsbrecherischen Ausflug unternommen." (161)

Animaya ist ein Waisenkind, deren Eltern auf mysteriöse Weise gestorben sind. Ihr Vater soll angeblich vom Volk der Krokodilreiter ermordet worden sein. Sie selbst gehört dem im Dschungel lebenden letzten Stamm der Inkas an.

Von großen Stadtmauern geschützt standen das Volk des Inkas seit Jahrhunderten in einem blutigen Konflikt mit den in den Bäumen lebenden Spinnenmenschen und den Krokodilreitern, deren Reich sich in den Flüssen des Dschungels befinden. Am meisten bedroht fühlen sie sich aber von den blutleeren Albinas, die der Sage von blutiger Rache am Volk der Inkas angetrieben waren.

In Paititi, der Stadt des Inka-Königs, verlaufen die Tage nach strengen Regeln. Es ist verboten laut zu sprechen, um sich den Feinden nicht erkennen zu geben, weshalb die Menschen der Stadt auch das flüsternde Volk genannt werden.

Für Animaya, die an den strengen Gesetzen des Inkas nie gezweifelt hat, sollte sich einen Tag vor dem großen Haremsfest alles ändern, als sie beobachtet, wie General Kapnu Singa heimlich eine gefangene Albina in die Stadt schleppt. Bald darauf begegnet ihr ein mysteriöser blutroter Kolibri, der dreimal lang und einmal kurz pfiff. Sofort muss das junge Mädchen an ihren ermordeten Vater denken, der diese Melodie immer als Geheimzeichen verwendet hatte.

Am Tag des Haremsfestes, wo der große Inka die schönsten Jungfrauen Paititis als Konkubinen auswählt, beginnen sich die Ereignisse zu überschlagen. Sowohl Animaya als auch ihre Freundin Pillpa wünschen sich nichts mehr, als in den Harem des Inkas aufgenommen zu werden, was ein sorgenfreies Leben zu versprechen schien. Als Pillpa jedoch abgewiesen wird und ihrem Ärger lautstark Luft macht, wird sie vom obersten General Kapu Singa kaltblütig bestraft und als Tempeldienerin eingesperrt.

Kurze Zeit später erlebt Animaya wie der General einen armer Tischler ermordet, der zwei Säcke mit Kartoffeln vor den Steuereintreibern des Inkas versteckt hat. Diese Erlebnisse und die Begegnung mit einem jungen Krokodilreiter, der so anders ist, als es in den offiziellen Verlautbarungen der Führungsschicht immer wieder propagiert wird, lassen sie immer mehr an der Gesellschaftsordnung der Inka-Gesellschaft zweifeln. Und plötzlich bemerkt sie, dass die Zahl der Aufständischen weitaus größer ist, als sie gedacht hätte.

Als sich von außen eine unsichtbare Gefahr auf das Inkareich zubewegt und die Herrschaftsschicht des Inka die Flucht aus der Stadt vorbereitet, beginnt für Animaya und ihre Verbündeten ein Wettlauf mit der Zeit.

Thilo P. Lassak erzählt die Geschichte einer autoritär geführten Gesellschaft, in der alles Denken, Sprechen und Handeln streng kontrolliert werden. Begründet werden die strengen Verhaltensregeln mit der vermeintlichen Bedrohung durch äußere Feinde. Ein junges Mädchen beginnt die Welt durch ihre Erlebnisse und Erscheinungen zunehmend mit neuen Augen zu sehen und ihre vorgefasste, auf jahrelange Propaganda beruhende Sichtweise zu ändern.

Lassak verbindet geschickt fantastische Elemente mit Elementen des Gesellschaftsromans und stellt die Frage nach der Legitimität von Macht in den Raum. Besonders beeindruckend ist dabei die Gestalt der Heldin, die sich von einem jungen regimetreuen Mädchen, zu einer selbstständig denkenden Persönlichkeit entwickelt, das die Wahrheit und Gerechtigkeit zu finden versucht. Eine spannende Lektüre für jugendliche Leser, die viel Stoff für gesellschaftspolitische Diskussionen bietet.

Thilo P. Lassak, Der blutrote Kolibri. Ab 12 Jahren
Ravensburg: Ravensburger-Verlag 2012, 320 Seiten, 17,50 €, ISBN 978-3-473-40071-3

Weiterführende Links:
Ravensburger-Verlag: Thilo P. Lassak, Der blutrote Kolibri
Wikipedia: Thilo Petry-Lassak

Andreas Markt-Huter, 26-11-2012