Elisabeth Combres, Die stummen Schreie
Im Jahr 1994 kommt es in Ruanda zu einem Völkermord, vor dem die UNO und die Weltöffentlichkeit die Augen verschlossen haben. Die Erinnerung an das Grauen in Ruanda aber ist geblieben und die Überlebenden leiden noch heute daran.
Elisabeth Combres Roman Die stummen Schreie hat eines der schrecklichsten Kapitel in der afrikanischen Geschichte zum Thema, den Völkermord in Ruanda, bei dem in kürzester Zeit knapp eine Millionen Menschen grausam ermordet worden sind.
Im Mittelpunkt der Geschichte steht Emma, die als vierjähriges Kind miterleben muss, wie ihre Mutter bestialisch von herumziehenden Hutu-Milizen ermordet wird. Ihr einziges Vergehen: sie ist Angehörige der Tutsi-Minderheit. Auslösender Moment für die Eskalation der Gewalt war die Ermordung des ruandischen Präsidenten, der in seinem Flugzeug am 6. April 1994 abgeschossen worden war. Über die Medien werden die Mitglieder der Hutu-Mehrheit unablässig gegen die Tutsis aufgehetzt. Knapp eine Million Menschen fallen den anschließenden Massakern zum Opfer.
Als die mordenden Hutu-Banden durch die Straßen ziehen, um Jagd auf Tutsis zu machen, wird Emma von ihrer Mutter hinter einem großen Sessel versteckt, wo sie unentdeckt bleibt, während ihre Mutter ermordet wird.
"Versteck dich da", hatte ihre Mutter gesagt. "Schließ die Augen, halt dir die Ohren zu, rühr dich nicht, sei ganz still und denk dich weg aus diesem Zimmer, du siehst nichts, du hörst nichts, bald ist alles vorbei. Du darfst nicht sterben, Emma!" (10)
Emma schließt sich dem Flüchtlingsstrom der verfolgten Familien an, bis sie eines Tages von der Hutu-Frau Mukecuru gerettet wird, die ihr vor den herumziehenden Hutu-Männern Unterschlupf gewährt. Emma wird fast täglich von Albträumen geplagt, die sie immer wieder in die Schreckensnacht zurückbringen, in der ihre Mutter ermordet worden ist. Nur die letzten Worte ihrer Mutter halten sie am Leben: Du darfst nicht sterben!
Neun Jahre später wird Emma neuerlich mit ihrer Vergangenheit konfrontiert, als die ehemaligen Mörder vor Gericht gestellt werden und die überlebenden Opfer als Zeugen vernommen werden sollen. Auf Lastwagen werden die Häftlinge durch die Straßen gefahren und als Emma glaubt die Stimme eines der Mörder ihrer Mutter erkannt zu haben, bricht sie zusammen.
Und da gibt es noch einen Jungen Namens Ndoli, dessen schreckliche Narben und Verletzungen am Kopf ebenfalls an die Verfolgung durch die Hutu-Milizen erinnern. Emma wird von dem traumatisierten Jungen angezogen und abgestoßen zugleich, bis sie eines Tages eine Veränderung an ihm bemerkt, nachdem ein alter Mann mit gesprochen hat. Derselbe Mann besucht auch Emmas Pflegmutter Muecuru, der ihr in Aussicht stellt, Emma von ihren Albträumen zu befreien. Sie soll ihm von ihren Erlebnissen während der Massaker berichten.
Elisabeth Combres gelingt es den Opfern des Völkermordes in Ruanda ein individuelles Gesicht und Schicksal zu geben und sie der Masse zu entziehen, welche die Vorstellungskraft angesichts des unvorstellbaren Ausmaßes an Gewalt übersteigen. Ganz unmittelbar werden Erinnerungen an den Holocaust wach, dessen Dimensionen ebenfalls kaum nachvollziehbar erscheinen.
Mit der Darstellung des Einzelschicksals eines jungen Mädchens, das jahrelang an den Folgen der schrecklichen Erlebnisse zu leiden hat, zeigt Combres sowohl die Gefahren und Schrecken die aus Verhetzung und Hass entstehen können als auch die Hoffnung, dass es immer wieder Menschen gibt, die sich trotz aller Gefahren für die Menschlichkeit entscheiden. Aber auch das versöhnliche Ende, in dem sich Emma ihrer Vergangenheit stellen kann, gibt Hoffnung.
Elisabeth Combres hat mit ihrem Roman Die stummen Schreie ein Buch wider das Vergessen geschrieben und die vielen Opfer des Völkermordes dem Vergessen entrissen. Combres verzichtet auf grausame Details und konzentriert sich ganz auf das Seelenleben der Opfer der Verfolgung, was die Identifizierung mit deren Leiden ermöglicht. Ein wichtiger Roman, der jugendliche Leserinnen und Leser sicherlich fesseln und berühren wird.
Elisabeth Combres, Die stummen Schreie. Übers. Bernadette Ott, ab 14 Jahren
Köln: Boje-Verlag 2010, 128 Seiten, 10,30 €, ISBN 978-3-414-82119-5
Weiterführende Links:
Boje-Verlag: Elisabeth Combres, Die stummen Schreie
Andrea Markt-Huter, 12-10-2010