Das Innsbrucker Zeitungsarchiv - ein Tiroler Aushängeschild Teil 3

Die größte universitäre Dokumentationsstelle für journalistische Literaturkritik im deutschen Sprachraum befindet sich in Tirol, genauer gesagt im Innsbrucker Zeitungsarchiv. Diese Forschungs- und Servicestelle der Universität Innsbruck versteht sich nicht nur als Informationsquelle für Angehörige der Universität, sondern für alle Literaturinteressierten.

Journalistische Literaturkritik in den verschiedenen Medien gibt einen Einblick in den Stellenwert und die Rolle von Literatur in der Vergangenheit und Gegenwart. Im Innsbrucker Zeitungsarchiv können beispielsweise Quellen zu allen Literaturskandalen seit den 60-iger Jahren des 20. Jahrhunderts gefunden werden.

Lesen in Tirol hat den Leiter des Innsbrucker Zeitungsarchivs, Univ. Prof. Dr. Stefan Neuhaus, besucht und ihn über die Aufgaben, Ziele und Schwerpunkte des Innsbrucker Zeitungsarchivs befragt. Im dritten Teil des Interviews spricht Professor Neuhaus, dessen Forschungsschwerpunkte  auf den Gebieten Literaturkritik / Literatur und Journalismus, Literaturtheorie, Literaturgeschichte, Gegenwartsliteratur und Film liegen, über seine Sicht der Aufgabe von Literaturkritik, aber auch über Literaturskandale, die im Innsbrucker Zeitungsarchiv dokumtentiert sind und sich dort nachlesen lassen.


Interview mit Univ. Prof. Stefan Neuhaus: Teil 3


Lesen in Tirol: Skandale aus dem Bereich der Literatur, über die die Medien berichten, nehmen in der öffentlichen Wahrnehmung immer wieder einen besonderen Stellenwert ein. Was waren die spektakulärsten Literaturskandale, die anhand des Innsbrucker Zeitungsarchivs nachgelesen werden können?

Stefan Neuhaus: Das Innsbrucker Zeitungsarchiv hat zusammen mit dem Forschungsinstitut Brenner-Archiv vom 14. bis 18. März in Innsbruck im Rahmen des Forschungsschwerpunkts Prozesse der Literaturvermittlung? eine Internationale Tagung veranstaltet zum Thema Literatur und Skandal?. Viele der Vortragenden aus Österreich aber auch aus Deutschland und anderen Ländern haben ihr Thema im Innsbrucker Zeitungsarchiv recherchiert, was uns natürlich besonders gefreut hat und woran man auch sieht, dass bei uns sehr viel vorhanden ist, was für so ein Thema wichtig ist.

Sie finden bei uns sämtliche neueren Literaturskandale dokumentiert, sodass alle Materialien seit den 60-iger Jahren des 20. Jahrhunderts vorhanden sind, um z.B. eine Geschichte der Literaturskandale ab diesem Zeitraum zu schreiben. Ich habe vor kurzem einen Vortrag vorbereitet, den ich auf einem Symposium der österreichischen Germanistik in Klagenfurt halten werde. In diesem Vortrag wird es über die Rezeption von Bernhard Schlinks Der Vorleser gehen.

Auch dieser Roman war ein Skandal, der recht interessant nachvollzogen werden kann. In einem Artikel des Times Literary Supplement wurde dieser Welterfolg, der zu den wenigen deutschsprachigen Bestsellern überhaupt zählt, von dem hohen Sockel des Erfolgs herunter gestoßen. Zunächst hat eine amerikanische Philologin in einem kleineren Artikel Schlinks Roman angegriffen, was aber noch kein großes Aufsehen erregte. Erst als ein englischer Germanist Schlink bezichtigte, den Holocaust zu verharmlosen, wurde das Buch, das bis dahin ein uneingeschränkter Welterfolg war, plötzlich skandalisiert. Es ist recht interessant zu untersuchen, wie die Mechanismen dabei arbeiten.


Bernhard Schlinks Roman Der Vorleser sorgte ebenso für einen Literaturskandal wie Günter Grass Roman Ein weites Feld und Martin Walsers Tod eines Kritikers.

Einer der größten Literaturskandale war sicherlich in den 90-iger Jahren der Streit um Christa Wolfs Roman Was bleibt?, ein deutsch-deutscher Literaturstreit Anfang der 90-iger Jahre. Es gibt zwar eine auch eine Dokumentation über diesen Literaturstreit, wir haben in unserem Archiv dazu aber wesentlich mehr Material zur Verfügung. Weitere Beispiele wären der Streit um Günter Grass? Roman Ein weites Feld? im Jahr 1995 oder um Martin Walsers so genannte Friedenspreisrede oder um seinen Roman Tod eines Kritikers?, der eine Antisemitismusdebatte ausgelöst hatte.

Zur Friedenspreisrede ist zwar noch die von Frank Schirrmacher herausgegebene Dokumentation Die Walser-Bubis-Debatte? 1999 im Suhrkamp-Verlag erschienen. Die Debatte über Tod eines Kritikers? wurde bisher noch nirgendwo aufgearbeitet. Wer sich darüber umfassend informieren möchte, kann dies bei uns tun. All diese Skandale können bei uns nachgelesen werden, wie z.B. der Standard-Artikel Neue Unbefangenheit der Geschichte gegenüber.

Wir haben natürlich auch Tiroler Literaturskandale dokumentiert wie z.B. zu Felix Mitterers umstrittenem Stück Kein Platz für Idioten? oder zu dem von ihm geschriebenen vierteiligen Fernsehfilm Die Piefka-Saga?. Wer sich darüber informieren möchte: Auch diese Auseinandersetzungen haben wir alle im IZA gesammelt.

Wir haben aber auch andere spezielle Sammelgebiete: etwa Berichte über die Reform und die Reform der Reform der deutschen Rechtschreibung. Auch das war ein Skandal, wenn auch in der Sprachwissenschaft und nicht in der Literaturwissenschaft. Ein aktuelles Beispiel aus der jüngsten Zeit wäre die Debatte über Peter Handke und den Heine Preis.

Kurt Gritsch, der in der Tiroler Tageszeitung den Artikel Populismus oder warum Handke ein würdiger Heine-Preisträger ist veröffentlich hat, hat seine Diplomarbeit über Handkes Reisebericht Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien? geschrieben, wozu er die Unterlagen aus dem Zeitungsarchiv entnehmen konnte. Aber auch die Debatten zu anderen Werken Handkes sind bei uns ebenso dokumentiert wie zu den Werken Elfriede Jelineks. Es fehlt allerdings noch an Forschern, die das Ganze systematisch aufbereiten.

Lesen in Tirol: Wie ist Literaturkritik generell zu bewerten?

Stefan Neuhaus: Literaturkritik hat grundsätzlich eine sehr wichtige Funktion in der Öffentlichkeit. Man kann sie zwar selbst kritisieren, was in der Vergangenheit auch immer wieder getan wurde, aber sie ist vor allem so etwas wie ein Trendsetter. Leser orientieren sich natürlich auf vielfältige Weise, nicht nur über Literaturkritiken, aber diese spielen doch eine sehr wichtige Rolle. Dabei muss der Erfolg eines Buches nicht unbedingt linear von den Kritiken abhängig sein.

Es gibt Fälle, wo auch eine sehr positive Kritik im Literarischen Quartett? nicht dazu geführt hat, dass das Buch sehr stark verkauft werden konnte. Es gibt aber auch gegenteilige Fälle, wie z.B. der Roman Ein weites Feld? von Günter Grass, der im Literarischen Quartett? und quer durch die Feuilletons zunächst hoffnungslos verrissen wurde und trotzdem ließ sich das Buch in kürzester Zeit mehrere 100.000-mal verkaufen.


Eine wichtige Bedeutung der Literaturkritik liegt in der Orientierungsfunktion für Leserinnen und Leser. Im Idealfall sollten sie Informationen erhalten, mit denen sie entscheiden können,  ob sie ein Buch interessiert oder nicht.

Es besteht also kein linearer Zusammenhang zwischen dem Erfolg eines Buches und der Literaturkritik. Es muss aber dennoch festgehalten werden, dass durch die Wahrnehmung eines Buches von der Literaturkritik die Tür zum Leser, zur Anerkennung durch Institutionen wie Schulen, Bibliotheken und der Universität, aber auch zum ökonomischen Erfolg geöffnet werden kann. Ein Buch, das von der Literaturkritik beachtet wird, hat es einfach leichter, in den Literaturkanon? zu kommen. Ob diese Beachtung nun positiv ist oder nicht, ist oft zweitrangig. Bücher, die nicht wahrgenommen werden, finden keine Leser oder finden erst zeitversetzt Beachtung.

Eine weitere Bedeutung der Literaturkritik liegt in der Orientierungsfunktion für Leserinnen und Leser, die wissen wollen, was es zu lesen gibt. Im Idealfall sollten Kritiken eine Servicefunktion darstellen und die Bewertung sollte so erfolgen, dass der einzelne Leser anhand der Bewertungskriterien für sich entscheiden kann, ob ihn ein bestimmtes Buch interessiert oder nicht.

Lesen in Tirol: Wie haben sich Literaturkritik und das Schreiben über Literatur in den letzten Jahrzehnten verändert?

Stefan Neuhaus: Es lässt sich hier ein gewisser Trend im positiven wie im negativen erkennen. Eine negative Entwicklung ist sicherlich, dass Literaturkritik immer mehr das macht, was ihr Hans Magnus Enzensberger schon vor Jahrzehnten vorgeworfen hat, nämlich dass sich Literaturkritiker in erster Linie als Pädagogen oder Zirkulationsagenten gebärden.

Pädagogen in dem Sinne, dass sie mit einem missionarischen Eifer versuchen, Bücher, die ihnen wichtig sind, anzupreisen. Zirkulationsagenten nennt er Kritiker, die nur noch über bestimmte Bücher informieren, quasi im Auftrag von Verlagen, die selbstverständlich ihre eigenen Bücher verkauft wissen wollen.

Es lässt sich beobachten, dass es vor allem in regionalen Zeitungen immer mehr so genannte Buchanzeigen? gibt, weil gerade hier zu wenig Man- and Womanpower? vorhanden ist, um die Bücher wirklich selbst zu lesen und sich daraus ein selbständiges Urteil zu bilden. Sie bedienen sich an Klappentexten und Informationen von Verlagen, schreiben das ein wenig um und setzen das Ganze so in die Zeitung. Es handelt sich auch dabei um eine Information über Literatur und auch hier hat ein Selektionsprozess stattgefunden. Aber selbstverständlich ist der kritische Text vorzuziehen, wo das Buch auch wirklich gelesen und geistig verarbeitet worden ist.

Als positive Entwicklung würde ich anmerken, dass Literaturkritik sich immer weiter diversifiziert hat. Literaturkritik ist nicht mehr etwas, was von einigen Wenigen oligarchisch dominiert wird. Die Zeiten des Großkritikers? sind endgültig vorbei. Literaturkritik ist heute etwas, das von unten nach oben wächst, wo auch sehr viele einfache Leser? sich zu Wort melden und gerade im Bereich des Internet sich eine Fülle an Kritiken und Orientierungsmöglichkeiten aufgetan haben.

Ich denke dabei an Amazon?, wo Leser die Bücher bewerten und Sterne vergeben können, oder an Angebote wie Literaturkritik.de?, wo auch Studierende Literaturkritiken verfassen können und nicht nur die hehren Kritiker durch das Nadelöhr der großen Medien Leser erreichen. Ich würde daher heute von einer postmodernen Literaturkritik sprechen, in der die Vielfalt sehr wichtig geworden ist, was ich sehr positiv bewerte, weil sich dadurch das Angebot für die Leser vergrößert hat.

Zunehmend wichtig wird dabei der intelligente Mediennutzer. Vor allem dass den Menschen an den Schulen und Universitäten näher gebracht wird, wie sie sich informieren und möglichst intelligent das vielfältige Angebot der Kritik nutzen können.

Heute stützt sich der Erfolg eines Verlages auf immer weniger Bücher. Gleichzeitig wird aber das Angebot der Verlage immer größer. Wurden von einem Verlag X 1980 beispielsweise 20 belletristische Titel im Jahr herausgegeben, dann gab es damals vielleicht fünfzehn Bücher, mit denen er Geld verdient hat, fünf davon, mit denen er gut verdient hat, und fünf, mit denen er gar nichts verdienen konnte.

Heute hat sich die Situation so entwickelt, dass der Verlag nicht mehr 20 sondern 40 Titel herausgibt und er nicht mehr mit fünfzehn sondern nur noch mit zehn Büchern Geld verdient und hier wiederum nicht mehr mit fünf sondern nur noch mit zwei Titeln relativ gut verdient. So in etwa könnte die Entwicklung der letzten 20 ? 25 Jahre nachgezeichnet werden.


Die Zeiten des Großkritikers sind endgültig vorbei. Literaturkritik ist heute etwas, das von unten nach oben wächst, wo auch sehr viele einfache Leser sich zu Wort melden und gerade im Bereich des Internet sich eine Fülle an Kritiken und Orientierungsmöglichkeiten aufgetan haben.

Diese Entwicklung hat sowohl positive als auch negative Auswirkungen. Negativ ist, dass immer weniger Titel immer wichtiger werden, weil dadurch sich auch der öffentliche Diskurs über Literatur auf immer weniger Titel stützt und dadurch die Breite verloren geht. Auf der anderen Seite entsteht an der Basis wieder eine neue Breite, indem immer mehr Texte zur Veröffentlichung kommen.

Das Angebot an Belletristik hat sich in den letzten Jahren ja vergrößert und ist nicht kleiner geworden. Lediglich die Pyramide hat sich immer mehr zugespitzt. Die Basis hat sich also vergrößert, während die Spitze dünner geworden ist, die Pyramide ist an den Seiten eingeknickt. Auch hier kommt wieder die Bildung und Ausbildung ins Spiel. 

Wichtig wäre es, an der Schule und an den Universitäten den intelligenten Umgang mit dem literarischen Angebot näher zu bringen und damit zu helfen, sich in diesem zunehmend komplexeren Literaturbetrieb zu orientieren. Wichtig ist es zu lernen, Literatur nach den eigenen Vorlieben und Bedürfnissen auszuwählen. Da sehen wir uns als Zeitungsarchiv in einer Rolle, in der wir zahlreiche Hilfsmittel bereitstellen können.

Lesen in Tirol: Vielen Dank für das Interview!

 

>> Das Innsbrucker Zeitungsarchiv - ein Tiroler Aushängeschild Teil 1

>> Das Innsbrucker Zeitungsarchiv - ein Tiroler Aushängeschild Teil 2


Andreas Markt-Huter, 30-06-2006

Weiterführende Links:
Innsbrucker Zeitungsarchiv
Lesen in Tirol: IZA - Literatur im Spiegel öffentlicher Medien

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