Roman Banzer u.a. (Hg.), Literatur sichten

literatur sichten - anthologieLiteraturzyniker ätzen zwischendurch: Wenn irgendwo nichts los ist, macht man eine Anthologie. Eine Anthologie suggeriert immer, dass sie notwendig ist, indem sie viele Themen oder Autoren aneinanderreiht, damit der Leser nicht das Fehlen eines Zentralthemas merkt.

Das Projekt „Literatur sichten“ ist mittlerweile so etwas wie Hausbrauch in Südtirol geworden, indem nämlich das finanziell wohlbestallte Literaturhaus Liechtenstein immer wieder ein Auge auf das benachbarte Südtirol wirft und mit Veranstaltungen, Symposien und Publikationen ab und zu einen Weckruf an die verschnarchten Südtiroler sendet.

Aktionen wie „Literatur sichten“ haben immerhin zwei historische Anthologien hervorgebracht, schon 1970 und 1983 erscheinen aufsehenerregende Überblicke über das literarische Schaffen in Südtirol, das bis dahin hauptsächlich als Auswanderungsland für Autorinnen in Erscheinung getreten ist.

Dass letztlich die gesamte deutschsprachige Literaturgilde stets einen Blick auf Südtirol wirft, hat damit zu tun, dass in diesem Sprachenkonglomerat vor allem die öffentliche Förderung immer auf dem Prüfstand steht.

In manchen Jahren lässt sich vermuten, dass niemand in Südtirol eine Literatur will oder braucht. Nur weil sie eben gefördert wird und ein Teil der Autonomie ist, macht sie halt manchmal jemand. Bei den meisten hat man den Eindruck, dass ihnen das ganze lästig ist. Einen richtig bissigen Volldichter (um ein wenig an die volkstümliche Konnotation zum Volltrottel heranzupirschen) hat Südtirol schon längere Zeit nicht mehr gesehen.

In der aktuellen Sichtung stellen die Herausgeber das Verfahren vor, verweisen auf die historischen Höhepunkte des Unterfangens und lassen bald einmal die 27 Autorinnen zu Wort kommen, die in einem Biographien-Anhang ausreichend vorgestellt werden. Den Rest kann man in Wikipedia nachlesen, wo die Südtiroler regelmäßig eingepflegt werden.

Aus dem alphabetisch angeordneten Textkonvolut, deren Urheber sich von Giovanni Accardo (Jg. 1962), über Rut Bernardi (Jg. 1962), Kurt Lanthaler (geb. 1960), über Anna Rottensteiner (1962) bis hin zu Erika Wimmer Mazohl (Jg. 1957) erstrecken, fallen zwei Gruppierungen auf, die sogenannten Boomer-Dichter, die um 1960 geboren sind und allmählich in die Schreibrente wechseln, und die 1970er, die so nebenher die Rechtschreibreform und Digitalisierung aus der Schreibbahn geworfen hat. Die wenigen um die Jahrtausendwende Geborenen wirken eher wie Aufputz und pragmatische Hoffnungsträger. Diese Bemerkung über die Südtiroler Dichtung lässt sich freilich auf den gesamten Literaturbetrieb übertragen und weist auf den Umstand hin, dass am ganzen Kontinent Publikum und Literaturmacher zwischendurch ausdünnen und versiegen.

Die fünf hier kommentierten Beispiele stützen sich auf durchaus gängige Themen und lassen vermuten, dass die Südtiroler Literatur überall in der EU stattfinden könnte. Was sie ja auch tut, weil sie überall ähnlich gefördert oder eingebremst wird.

Giovanni Accardo zeigt in einem Sozialaufriss das Paar Vincenzo und Lissy, wie es sich prekär durch Bozen quält. Er stammt aus Sizilien und arbeitet als Sozialarbeiter, sie zeigt als deutschsprechende Einheimische eine gewisse Affinität zur rechten Szene und macht sich auf den Weg nach Berlin, weil es in Bozen keine Zukunft gibt. Vielleicht folgt ihr Vincenzo nach, denn als er eine Wohnung sucht, soll er Zweidrittel seines Einkommens für eine Zwergwohnung hinblättern. Die Empörung des Wohnungssuchenden und die Saturiertheit des Wohnungsbesitzers halten sich in Bozen noch die Waage. Aber die Polizei würde vorbeikommen, um das Thema zu lösen, wenn sie zur Erregung gerufen würde.

Maria E. Brunner beleuchtet in ihrer Erzählung „die vielen Seiten der Geschichte“. In vier Erzählschattierungen kommen die Dinge von früher zurück ans Tageslicht der Gegenwart, vermischen sich mit den Begebenheiten im öffentlichen Raum und bilden einen neuen Plot, in dem die romantisierenden Floskeln von früher als abgestumpftes Werkzeug für die Gegenwart eingesetzt werden. Ein Grenzort, der vielleicht Brenner heißen könnte, hat seine Funktionen verändert, aus den Kasernen sind Migrationsunterkünfte geworden, aus den ehemals fetten Pfirsichen des Südens ein flachsiges Outlet aus dem Norden. Eine ausgewanderte Stimme erinnert sich:

Geboren im Gebirgstal. Wurzeln waren da nie. Nur die Kost, die schwer verdiente ungesunde Kost. Auswandern die einzige Lösung. Aber das Auswandern war kein Abenteuer. Ein Riss ging durch die enge Welt des Gebirgstales. (49)

„Ohne die anderen leben“ heißt der Essay von Gabriele DiLuca (61). Darin geht es um innig zitierte große Wörter, die sich zwar in einer Zeile hintereinander setzen lassen, im Alltag aber die Gesellschaft in Stränge zerlegen, die fast nichts miteinander zu tun haben, außer dass sie im gleichen geographischen Gebiet ausgelegt sind. „Gegeneinander, Miteinander, Nebeneinander, Ohneeinander“ heißt die soziologische Zauberformel.

Felix Maier besingt nach alter Weise „den gelben Enzian“, wohl wissend, dass er bald ausgestorben sein wird wie alles, was früher besungen worden ist.

Du sitzt oben / Über Baumgrenzen hinweg / Setzt du dich, in den Boden / Auf dem Kalk, hörst den Kolkraben / Zu und den Dohlen. (111)

Anna Rottensteiner schreibt im Stil der „Literaturhaus-Literatur“ eine feine Petitesse über die Südtiroler Literatur und versucht unter dem Titel „Amadou, Kofler, Kaser und ich“ das Zufällige in einen logischen Zusammenhang zu bringen. (147)

Das Projekt „Literatur sichten“ ist in literarisch kargen Zeiten wahrscheinlich wichtiger denn je. Ein paar scheinen im Land noch dahinzuschreiben in Erwartung besserer Zeiten, alles was sie texten, ist richtig und zeitgemäß. Aber spätere Generationen werden schmunzeln, dass alle so wenig Literatur gemacht haben in einem Land, das vor Groteske und Größenwahn geradezu wegschmilzt, wie der „Schnalstaler Eiskörper“ (von Gletscher getraut sich schon niemand mehr zu reden), der es bald hinter sich haben wird.


Roman Banzer / Hansjörg Quaderer /Ludwig Paulmichl (Hg.), Literatur sichten. Südtirol | Alto Adige | „alto fragile“. Eine Anthologie, Literaturhaus Liechtenstein, Jahrbuch 15 | 2021
Wien, Bozen: Folio Verlag 2021, 190 Seiten, 22,00 €, ISBN 978-3-85256-840-9

 

Weiterführender Link:
Folio Verlag: Roman Banzer u.a. (Hg.), Literatur sichten

 

Helmuth Schönauer, 16-01-2022

Bibliographie

AutorIn

Giovanni Accardo / Rut Bernardi / Kurt Lanthaler / Erika Wimmer Mazohl u.a.

Buchtitel

Literatur sichten. Südtirol | Alto Adige | „alto fragile“. Eine Anthologie

Erscheinungsort

Bozen

Erscheinungsjahr

2021

Verlag

Folio Verlag

Herausgeber

Roman Banzer / Hansjörg Quaderer /Ludwig Paulmichl

Reihe

Literaturhaus Liechtenstein, Jahrbuch 15, 2021

Seitenzahl

190

Preis in EUR

22,00

ISBN

978-3-85256-840-9

Kurzbiographie AutorIn

Roman Banzer ist Leiter des Literaturhauses Liechtenstein.
Hansjörg Quaderer ist Programmverantwortlicher der Liechtensteiner Literaturtage.
Ludwig Paulmichl, geb. 1960 in Schlanders, leitet den Folio Verlag.