thomas sautner, der erfindung der weltSchöpfungsgeschichten haben meist einen Prolog, in dem das Wesentliche erzählt wird. Bei der Erschaffung der Welt geht es nämlich wie in der Genesis darum, dass zuerst nichts ist, und dann durch einen Erzähltrick plötzlich die komplette Welt eruptiert. In der Bibel funktioniert das mit dem Satz vom „Anfang war das Wort“, beim Faust mit der Sonne, die nach alter Weise kreist, im Taoismus beginnt die Welt als mathematische Formel, wonach die Eins die Zwei hervorbringt.

Thomas Sautner hat sich für die „Erschaffung der Welt“ ebenfalls einen funktionierenden Erzählhandgriff einfallen lassen. In der Welt der Stipendien- und Auftragsliteratur wird die Literatur erschaffen, indem plötzlich Kohle auf das Konto der Autoren kommt und vielleicht noch die Durchsage, wie viel Zeichen der abzuliefernde Text haben soll.

elke steiner, über das licht gedrehtDie schaurige Geschichte vom Erlkönig, der mit seinem toten Kind durch den eigenen Wahnsinn reitet, lässt sich auch psychologisch deuten. Da identifiziert sich ein Held so heftig mit der Rolle, dass er die Geschichte mit toten Bruchstücken zu Ende bringt, auch wenn die Story schon tot geritten ist.

Elke Steiner zeigt in ihrem Roman „Über das Licht gedreht“ eine Heldin, die mit dem Verlust ihrer frühgeborenen Tochter nicht zurecht kommt und durchdreht. Gleich zu Beginn steigt Hanna spät in der Nacht in einem Hotel ab, sie ist von der Anfahrt verwirrt. Nach dem Einchecken merkt sie, dass sie ihre Tochter Emmelyn (mit Ypsilon) im Auto vergessen hat. Das Personal wundert sich noch, wie man so ein Kind vergessen kann, aber die Müdigkeit scheint auch verrücktes Verhalten erklärbar zu machen.

max wolf, glücksreaktorObwohl wir alle wissen, dass es ein angelesener Rausch nie mit einem echten aufnehmen kann, lassen wir Lese-Profis uns immer wieder auf einen virtuellen Rausch ein. Man wird jung dabei, hat einen ordentlichen Fetzen und kann daraus ohne Kater oder sonstige Schäden erwachen. Ein Second-Hand-Rausch ist gerade für Senioren ideal.

Max Wolf wirft seinen „Glücksreaktor“ freilich am anderen Ende einer Seniorenbiographie an. Der siebzehnjährige Fred erwacht eines Tages in Faitach, einem Vorort von Erlangen, auf einer Ameisenstraße. Er ist Schüler an einem Oberstufengymnasium und kriegt am ehesten noch etwas von Physik mit. Der dritte Hauptsatz der Thermodynamik hat schon was für sich, weil er schnurstracks in die Entropie führt.

anna stockhammer, janWenn etwas schiefgeht, lautet die alte Frage meist: Liegt es am System oder am Helden? Ein gutes System tut verlässlich alles, um niemanden in es hineinzulassen, aber ein Held im 21. Jahrhundert hat oft auch Ermüdungserscheinungen, so dass es zu keiner heldenhaften Karriere kommen kann.

Anna Stockhammer nimmt die Ur-Situation einer ganzen Generation zum Anlass, um den Praktikanten Jan Winter ordentlich auflaufen zu lassen. Der Ich-Erzähler Jan arbeitet bei einem Magazin als Praktikant. Irgendwie reiben sich Magazin und Held lustlos aneinander ab und gehen sich fallweise aus dem Weg. Da nimmt der Chefredakteur noch einmal väterlich das Heft in die Hand und geht auf Jan zu, um ihn für ein Interview zu animieren.

dennis cooper, mein loser fadenDie größte denkbare Kluft tut sich nicht zwischen diversen Kulturen auf, sondern zwischen der Welt der Jugendlichen und Erwachsenen. Das hat neben pädagogischen Konsequenzen auch zur Folge, dass es kaum Brücken in der Literatur gibt, diesen Gap zu überwinden. Denn die Autoren schreiben selten das, was Jugendliche betrifft, und die Jugendlichen haben keinen Bock auf die Entschleunigungsliteratur der Erwachsenen.

Dennis Cooper greift ein Thema auf, das sich nur vage von außen beschreiben lässt. Und es liegt die Vermutung nahe, dass auch die jugendlichen Heroen selbst nicht wissen, was in ihrem Innern los ist. „Mein loser Faden“ deutet auf die Konsistenz eines Helden hin, der nur vage einen Faden hat, an dem er sich entlang denkt. Und auch die Bedeutung „loser“ als Verlierer liegt auf der Hand.

masha gessen, die zukunft ist geschichteNicht umsonst hat es in der Lesedidaktik lange das Diktum gegeben: Wenn du ein anspruchsvoller Leser sein willst, musst du dich an russischen Romanen schulen! Wer nämlich durch die Slalomstangen eines üppigen Personalstandes halbwegs durch den Roman hindurch finden will, braucht auf jeden Fall Geduld und Erinnerungsvermögen, damit er eine Figur auch dann nicht verliert, wenn sie bloß einmal kurz vorkommt.

„Die Zukunft ist Geschichte“ ist zwar ein wissenschaftlich gut unterlegtes Geschichtswerk, ist aber generell als Roman ausgelegt. So erklärt die Autorin umfangreich das Wesen der russischen Namen. Sie sind je nach Alter, sowie Grad der Intimität und öffentlichen Reputation einzusetzen. Ein interessanter Mensch bringt es im russischen Literatur- und Alltagsgebrauch auf gut ein Dutzend Varianten seines Namens.

caroline schutti, patagonienManche Gegenden dienen nicht nur Reiseführern zum Austoben, sie ziehen oft eine eigene Literaturform nach sich. So sprechen wir von Gebirgsliteratur, wenn erhabenes Gestein als Grundlage für tiefgehende Psychosen dienen soll, von Sibirienliteratur, wenn es um Verbannung, Kriegsgefangenschaft oder Schamanen geht, und von Patagonienliteratur, wenn das Ende der Welt eine Rolle spielen soll.

Carolina Schutti baut ihre Texte von vornherein kunstvoll zu einem Sprachereignis auf, und erst in zweiter Linie liefert dieses Textkunstwerk etwas, was einer imaginierten Wirklichkeit entsprechen könnte. Patagonien ist somit kein Reiseführer und keine Erzählung, die in Patagonien spielt, sondern ein Schachbrett am Ende der Welt, auf dem in äußerst reduzierter Form Alltagsgegenstände und Alltagspersonen auftreten.

bernhard strobel, im vorgarten der palmeDie großen Dinge wie Liebe, Glück und Zufriedenheit sind oft nur deshalb so schwer zu erreichen, weil es keine gesicherten Erfahrungsparameter dafür gibt.

Bernhard Strobel baut in einer Siedlung einen üppigen Glückskosmos auf, der so reichhaltig bestückt ist, dass einem das Glück als gebratene Taube in den Mund fliegt. Aus Gründen des umgreifenden Tierschutzes ist diese Taube freilich als Palme ausgestaltet und steht in einem Vorgarten.

daniela dröscher, zeige deine klasseIn der Soziologie gibt es auch einen spielerischen Zugang zu den Fakten, aber die Ergebnisse sind dann immer ernüchternd realistisch und beileibe kein Spiel. In der Abwandlung eines unschuldigen Kinderspiels lässt sich durchaus intensiv das eigene Leben durchspielen mit der Anleitung: Zeige deine Klasse!

Daniela Dröscher analysiert in ihrem Sozio-Essay das Aufsteiger-Leben in Deutschland in den letzten Jahren des vorigen Jahrhunderts. Sie nennt ihr Untersuchungsfeld bewusst Klasse, weil diese undurchdringlich und unveränderbar ist, während die etwas lieblicheren Begriffe Milieu und Ambiente suggerieren, dass man etwas verändern könnte, wenn man nur wollte. Das brutale Gegenstück zur Klasse wäre dann die Kaste, in der die Unveränderbarkeit über Generationen festgeschrieben ist.

markus jäger, helden für immerGeschichten, die gut ausgehen, sind in der Gegenwartsliteratur ziemlich selten, weil die Anleitung zum Glücklichsein meist in den Sachbüchern verhandelt wird.

Markus Jäger lässt in seinem Roman „Helden für immer“ zwei Protagonisten zusammenkommen und zusammenleben. Die Philosophie der Homosexualität wird dabei als Glücksfall angelegt, die den Beteiligten auch Lebenssinn und Erfüllung verschafft, auch wenn sie natürlich immer wieder wie jede Beziehung auf dem Prüfstand steht.