Bei der Schmelze verändert sich der Stoff und geht vom festen in den flüssigen Aggregatszustand über. Auch in der Poesie gibt es so etwas wie Schmelze, wenn sich ein Stoff während des Erzählens verändert und als Prosa-Lava über die Seiten fließt.

Markus Lindner erzählt in knapp zwanzig Ansätzen von Stoffen, die harmlos daherkommen und jäh eine Verschärfung erfahren, von Helden, die während des Berichts traumatisiert werden und von Arealen, die während des Durchschreitens unbegehbar werden.

Spätestens seit Woody Allen ducken wir europäischen Nachfahren der Hitler-Herrschaft immer wieder zusammen, wenn wir hören, wie sich der jüdische Witz oft gegen die jüdischen Witzeerzähler selbst richtet und dabei schonungslos Muster freilegt, die sich nur mit dem Witz überwinden lassen.

Alan Kaufman erzählt in seiner autobiographischen Kollektion in fein heraus gearbeiteten Erlebnislinien, wie ein sogenannter Judenlümmel in der Bronx erwachsen und schließlich auch noch Schriftsteller wird. Dabei hat es der Ich-Erzähler nicht leicht, das Besondere vom Allgemeinen zu unterscheiden, die Gevierte in der Bronx von den Quadranten am Globus und das individuelle Schicksal von der Geschichte der Menschheit. Wie in allen Geschichten, die mit der Kindheit und Jugend zu tun haben, geht es um den Erfahrungsprozess, worin sich die Helden in einer anonymen Staffage erst zu unverwechselbaren Individuen entwickeln müssen.

Am eindringlichsten lassen sich Orte porträtieren, wenn Heldinnen und Helden als Fremde von diesen sozialen Gebilden angenommen oder abgestoßen werden. Die Protagonisten vereinen dabei in ihrer kombinierten Innen- und Außensicht fixe Eindrücke der Einheimischen mit elastischen Gedankengängen aus anderen Kulturen.

Ada Zapperi Zucker lässt in ihren Erzählungen meist eine Person von außen in die versteifte Idylle Südtirols kommen, womit automatisch Reibungspunkte entstehen und Aufklärungsarbeit angesagt ist.

Die besonders heftige Gegenwart tritt in der Literatur gerne als Endzeit auf, von da ab ist es dann nicht mehr weit bis zu einer ausgewachsenen Apokalypse.

Klaus Rohrmoser schreibt in seinem Roman „Dunkle Mutter Finsternis“ von ein paar verlorenen Heldinnen und Helden, die nach einer Attacke auf die Zivilisation in Bunkern, Reduits und versprengten Inseln übrig geblieben sind. In 99 Anschnitten fährt das Messer der Analyse durch ein soziales Konstrukt, das entlarvt und dekonstruiert ist.

Allmählich hat das Genre Thriller Standards entwickelt, die in punkto Plot, Figuren, Zeitgeist und Graphik relativ eng gefasste Muster ins Auge fassen.

Carlo Lucarelli, der Thriller- Autor aus Bologna, nimmt seine Heimat-Stadt meist unter politischen und kulturrelevanten Aspekten ins Visier. Im aktuellen Fall der „Bestie“ taucht sauber gegendert Grazia Negro als Kommissarin auf, die während des ganzen Falls damit beschäftigt ist, schwanger zu werden.

Der literaturgeschliffene Blick wird hinter der Begriffskette „Ruf-Fall-Ekel“ gleich ein Stück Literaturgeschichte aus den 1940er und 1950er Jahren erkennen. Die kulturpolitische Zeitschrift „Der Ruf“ versammelte rund um Alfred Andersch die verstümmelten Dichter nach dem Zweiten Weltkrieg, „Der Fall“ (1956) von Albert Camus zeigt anhand eines Absturzes des Helden die Zerbrechlichkeit einer Utopie, und Jean-Paul Sartres „Der Ekel“ (1938) gilt überhaupt als das Hauptwerk des Existentialismus.

Martin Kolozs baut in seinen Erzählungen immer darauf, dass der Leser schon einmal längs und quer durch die Literaturgeschichte geritten ist, um die Anspielungen, Verwerfungen und Korrekturen in den Mustern der Helden erschließen zu können. Seine Erzählungen sind oft Folien, die leicht versetzt auf angelesene Vorlagen gesetzt sind, um einen gewissen literarischen 3-D-Effekt zu erreichen.

Wenn man Familienverhältnisse von der romantischen Verbrämung befreit, bleibt meist ein skurriles Skelett abgemagerter Beziehungen übrig.

Evelyn Grill platziert in ihren neun Erzählungen die diversen Heldinnen und Helden in einer grotesken Form der Familienaufstellung. Entweder die Protagonisten wollen etwas besonders gut machen oder sie haben schon ein Desaster hinter sich und versuchen, die letzten Reste der Individualität zusammenzukehren. Jedenfalls ist kein Drehbuch so lähmend und aufwändig wie jenes, das durch Ehen, Erbschaften und Erziehungsmaßnahmen führen soll.

Den Wert einer Gesellschaft kann man an ihren Geschichten ablesen. Solange noch neue Geschichten erzählt werden, ist sie nicht gestorben. Monika Helfer erzählt als aufmerksame Alltagshistorikerin dutzende dieser Geschichten, die wie ein Lied noch Tagelang als Ohrwurm hängenbleiben.

Tatsächlich gleichen diese Geschichten jenen eindringlichen Balladen, die von den Missverständnissen zwischen den Generationen, den Abwehrmechanismen der Kulturen, der Geduld des Erforschens und dem Traum von einem geglückten Leben erzählen.

Ähnlich wie die Literatur können Kultur-Tiere (Hunde) durchaus eine Gesellschaft rezipieren und darauf reagieren. Die Literatur gibt diesen Künstler-Tieren dann den entsprechenden Auftritt.

Als Ur-Geschichte einer solchen Transformation menschlichen Verhaltens durch den Hund gilt Marie von Ebner-Eschenbachs Novelle Krambambuli, wo ein Hund zwischen Erst- und Zweitherren im Gehorsam zerrissen wird und sich schließlich für den Erstherren entscheidet.

Die knallhärteste Geschichte über Leben und Tod, Opfer und Mord, Blut und Initiation gibt es immer noch im Alten Testament, die pure Härte bricht aus, wenn man diesen archaischen Text in der Gegenwart erzählt.

David Vann braucht für seine Opfer-Orgie nur wenige Zutaten. Der elfjährige Ich-Erzähler wird von Vater, Großvater und einem Bekannten mitgenommen auf die Jagd, wo er am Goat Mountain seinen ersten Hirschen schießen soll, um eine Vorstufe von Mann zu werden. Abenteuerlich gut gelaunt bricht die Truppe auf und entdeckt bald einmal einen Wilderer, der ungeniert in der Landschaft steht.