leopold federmair, tokyo fragmenteTokyo Fragmente sind wahrscheinlich genauso schützenswerte Originale wie Lebensmittel, Weine oder Käse, die ihre Ursprungsbezeichnungen als Markenzeichen geschützt haben. Tokyo Fragmente könnte man in einer Schutzurkunde vielleicht als Notate bezeichnen, die ein Sprachforscher während seines Aufenthaltes im Großraum Tokyo niederlegt.

Leopold Federmair notiert in überschaubaren Erlebnis-Schleifen, im aktuellen Fall sind acht solcher Erfahrungsverdichtungen jeweils mit einem Foto als Kapitel ausgewiesen. Diese Einteilung ist aber völlig offen, denn die Gedankenschlieren werden niemals eingesperrt. Im Gegenteil, immer wieder treten Überlegungen zutage, wie man Tokyo anders erfahren könnte.

simon loidl, endstation ananasManche Dinge sind gesellschaftlich so ungeklärt, dass man als Schriftsteller nicht einmal abschätzen kann, welche Gattung man dafür verwenden sollte.

Simon Loidl verwendet für seine „Endstation Ananas“ jedenfalls eine offene Gattung. In einem Strukturverzeichnis am Ende des Buches sind die einzelnen Abschnitte aufgeschlüsselt mit amorphen Begriffen wie Nachtruhe, Tagwerk, Totschlagen oder Feierabend, die nummeriert gleich mehrfach vorkommen. Um das Vage dieser Begriffe zu unterstreichen, sind sie in einer verschwommenen Schrift gehalten wie von einem ausgeleierten Schreibmaschinenband heruntergewischt. Dazwischen gibt es die magischen Episoden „In der Tiefe“, „Maria und die anderen“ oder „Ausgespielt“. Und der Titel gehört wohl auch in die Kategorie rätselhaft. Bei der „Endstation Ananas“ handelt es sich um eine Band, die man nicht bewusst aufsuchen kann, sondern von deren Auftritten man sich streifen und berühren lassen muss.

wolfgang hermann, walter oder die ganze weltDie Welt schrumpft in kleinen Städten an der Peripherie zu einer Trommel, auf der sich trefflich ein Polizist aufstellen lässt, der den Weltverkehr regelt.

Wolfgang Hermanns subtile Heimatbeschreibung geht der Frage nach, welches Okular man einer Erzählung vorspannen muss, damit die Welt in einer harmonisch-humanen Verhältnismäßigkeit erscheint. „Walter oder die ganze Welt“ handelt von einem Polizisten in einer Vorarlberger Kleinstadt in den 1960er Jahren.

helmuth schönauer, nie wieder tirol„Tirol ist ein mehr oder weniger gelungener Bluff, der die Leute über den Tisch zieht, sobald jemand das Land betreten hat. Es gibt in Tirol nichts, was Sie nicht zu Hause in besserer Qualität haben könnten.“ (S. 5)

Die beiden jungen bayerische Startup Unternehmer Cum und Kim wollen in Tirol eine App entwickeln, mit deren Hilfe man sich in Tirol umschauen kann, ohne nach Tirol fahren zu müssen. Auf ihrer Fahrt nach Tirol werden sie nach zahlreichen gescheiterten Versuchen erkennen, dass es unmöglich ist, in das total „verstaute“ Land einzureisen.

reinhard wegerth, himmelstiegeDie Himmelsstiege kann durchaus auch als Paradoxon gelesen werden: Während jemand philosophisch den Weg der Befreiung erklimmt, macht er die Hölle der Schwerkraft und anderer körperlicher Handicaps mit.

Reinhard Wegerths literarische Quelle ist das eigene Leben, das ständig zwischen hell und dunkel oszilliert. Erzähltechnisch geht er einen raffinierten Weg, indem er die hellen Stellen im Buch „Damals und dort“ zusammenfasst, die dunklen Streifen aber mit dem hellen Titel „Himmelsstiege“ erzählt.

isabella feimer, monsterDie wahren Monster humpeln nicht als wuchtige Gestalten über die Leinwand, sondern als amorphe Schreckgespinste durch die Seele.

So ist es durchaus logisch, wenn Isabella Feimers Erzählung „Monster“ eigentlich eine feine Liebesgeschichte ist, die allerdings immer wieder von dunklen Schattenflecken heimgesucht wird. Held und Ich-Erzähler ist der Fotograf Max, der aus therapeutischen Zwecken in der weiten Landschaft Amerikas unterwegs ist. Während er sein fotografisches Auge über die animierenden Landschaftskonturen schweifen lässt, wird das Innere angeregt. Ja, er ist auf der Flucht vor Elsa, mit der er eine Liebesbeziehung auf Gedeih und Verderben aufgebaut hat. Von Elsa sind ihm noch gut Sätze in Erinnerung, worin sein Verhalten als monströs beschreiben wird. Und der finale Kuss endet auch mit der Liebesformel: Du Monster!

valerian, mourir dantzigSoll ich heute überhaupt was erleben? - Diese Frage der Spätromantik gilt heute als schwer überholt, besteht der Sinn des Lebens doch darin, möglichst viel zu erleben. Im Alter freilich kommt immer öfter die Frage auf, was tue ich mit dem Erlebten?

Für H. W. Valerian stellt eine Busreise durch das gegenwärtige Polen so ein Erlebnis dar, das irgendwie unbeabsichtigt aufgetaucht ist wie so viele Aktivitäten, die jemand im Ruhestand vollbringt. Nun ist diese Polenreise also einmal geschehen und für den belesenen und historisch interessierten Autor geht es darum, damit etwas anzufangen. In erster Linie heißt das für seine Generation: Aufschreiben.

gabriele petricek, innsbruckZu einem funktionierenden Programm gehört auch immer eine pragmatische Einschätzung, was möglich ist und was nicht. Dabei kann es sich um ein Ausbildungsprogramm, Lebensprogramm oder Sommerprogramm handeln, wichtig ist stets die Frage, was geht sich noch aus und was nicht.

Gabriele Petricek schickt ihre Heldin durch diverse Waschstraßen der Erzähltheorie, installiert sie wie eine Avatarin in verschiedenen Kulturkreisen und entwickelt sie nach dem Motto künstlicher Intelligenz im Literaturbetrieb. Der Kompositionsvorgang wird „Verfolgungsrituale“ genannt, dabei verfolgen einander die Figuren als beiläufige Verwandte oder Liebespartner, andererseits verfolgen die Figuren einfach diverse Ziele, die sie während der Verfolgung oft aus dem Auge verlieren.

güni noggler, ausgekochtIm Entertainment gelten Gespräche in einer künstlichen Küche als nette dramaturgische Konstellation, wo fallweise über Zwiebel und Kartoffel geredet werden kann, wenn das Gespräch zu sehr in die Tiefe eines Themas abdriften sollte.

Güni Noggler greift für sein Radio-Format „ausgekocht“ diese Hintergrund-Konstellation einer Küche auf, aber er bleibt so lange auf Sendung, bis die handelnden Personen wirklich ausgekocht sind und als blasse Karkasse am Küchentisch liegen.

elias schneitter, ein gutes pferd zieht noch einmalDie Erinnerung ist ein Pferd, das morgens auf den Acker geht und abends als Salami nach Hause kommt. Aber auch der Acker erlebt sein Asphalt-blaues Wunder und verwandelt sich innerhalb von Stunden in eine Schnellstraße.

Elias Schneitter ist der Spezialist für außerordentliche Helden vom Rand der Gesellschaft. Wenn seine Sprache oft grotesk unterkühlt wird, so huldigt er damit dem puren Realismus. In seinen Erzählungen ist nichts aufgeputzt oder abgeschliffen, die Sätze liegen unbehauen herum wie jenes seltene Brachland, auf dem die Figuren ihre Wunschträume mit morschem Holz und Bruchziegel errichten.