Gerald Murnane, Die Ebenen

gerald murnane, die ebenenAls die Erde noch eine Scheibe ist, ist die Ebene so etwas wie die ganze plane Welt, die man sich vorstellen kann. Später wird aus den Ebenen etwas Geographisches, worin sich vorzüglich Schlachten abwickeln lassen, das Kind spielt mit der Ebene, worin es diverse Figuren aufstellt und schließlich sind wir Literaturmenschen immer hingerissen von den Ebenen. Spielebene, Sprachebene, Metaebene, an manchen Tagen verlieren wir uns beim Lesen darin.

Gerald Murnane wohnt in einem Land, das aus einer einzigen Ebene besteht und laut Lebenslauf hat er diese Fläche nie verlassen, sondern alles, was er braucht, in sie hineinprojiziert. „Die Ebenen“ sind ein rätselhafter Roman, der viel mehr Fragen offen lässt, als er zu Lebzeiten der Lektüre zu beantworten gewillt ist. Der Roman ist eine Kulturgeschichte, ein Schöpfungsbericht, ein Abenteuerroman über die Verteidigung von Besitzständen und ein dramatisch-inniger Versuch, der inneren Peripherie Australiens eine Identität zu geben.

Ein Ich-Erzähler ist als Filmemacher eingeladen, draußen in den Plains das Leben und vor allem die Kulturen zu dokumentieren und wenn möglich mit einem Film abzurunden. Neben allerhand technischen Utensilien, die er in einem Farmhaus nahe der Bibliothek ausbreitet, verwendet er Anfangs ein Materialienbuch, in das alles eingetragen wird, was noch nicht katalogisiert ist.

Wie alle Kulturmenschen und insbesondere Bibliothekare weiß er, dass etwas erst dann wirklich ist, wenn es katalogisiert ist. Da kann es durchaus passieren, dass das Original verschwunden ist, wenn es davon aber noch ein Katalogisat gibt, ist es noch immer vorhanden.

Die Ebenen machen bis auf die Plain-Menschen, die darin wohnen, so ziemlich alle fertig. Die Aborigines sind ausgeblendet und somit nicht katalogisiert und auch nicht vorhanden. Die Ebene selbst verändert sich sukzessive durch Sonnenstand, Wind und die Konsistenz des Betrachters. Bei genauer Beobachtung sind die Ebenen nicht eben, sondern haben geo-morphische Erhebungen, Kanäle, Schraffuren, die am Rande in eine andere Ebene übergehen. Die Ebenen sind letztlich der politische Ausdruck für ein Gebiet, das zwar in Besitz genommen, aber noch nicht zur Heimat geworden ist.

Die einzelnen Farmer verwenden einen Großteil ihrer Ressourcen, um so etwas wie ein Kulturgefüge entstehen zu lassen. Jeder hat eine individuelle, rare Bibliothek und jeder widmet sich einem speziellen Gebiet. Fotografie, Theater, Kleidung, Transportmittel, alles muss erst aufgearbeitet und zu Geschichten transformiert werden.

Der Ich-Erzähler sammelt und lässt alle Künste auf sich einwirken, die als Original, Sammlung, Beschreibung und Bibliothek die Grundlage für einen Film mit ungewöhnlichem Vokabular dienen sollen. Die Plains-Leute kämpfen nämlich noch immer damit, dass sie mit dem Wort „australisch“ noch nichts anfangen können, obwohl es schon wie selbstverständlich verwendet wird.

Als ein Filmemacher bin ich bestens ausgerüstet, um diese Landschaften zu erforschen und sie anderen zu enthüllen. (43)

Die Ebenen selbst sind noch nie erforscht worden, aber jeder Plainsman weiß, dass er seinen Ort finden muss. (66) Die Farmer stehen oft gut gekleidet nächtelang zusammen und trinken sich nüchtern. Ihre Gespräche haben die Dramaturgie eines Theaterstücks, es geht weniger darum, eine Sieger-These im Dialog zu erarbeiten, vielmehr zeigen die Darsteller, was sie tagsüber gedacht haben. Und wie in einer Aufführung für Eltern oder Lehrer, die beklatschen sollen, was das Kind schon alles kann, wird der Sinn des Lebens artig heruntergesagt.
Auch der Erzähler müht sich mit diesem Hintersinn ab, so kämpft er damit, ein Porträt zu knipsen, das ein Substitut statt eines Gesichts darstellen soll.

Im zweiten Kapitel ist der Erzähler schon zehn Jahre lang in den inneren Organen Australiens unterwegs und hat gelernt, dass mit zunehmender Lebenszeit neue Ebenen hinzukommen. (96) Der Filmemacher begegnet dieser Herausforderung mit einer privaten Bibliothek, die den umliegenden Bezirk privatisiert, denn die Plainsleute reagieren nicht auf Geschichte. (119)

Im dritten Teil sind die Ebenen so gut es geht in die Bücher verschwunden, alles Relevante ist aufgezeichnet und steht in den Regalen, das Original spielt keine Rolle mehr. Der Künstler ist Bibliothekar, der die Metaebenen verwaltet. Als Bildkünstler stellt der Erzähler fest, dass die Ebenen umso bedeutsamer werden, je dunkler es ist. Es ist anzunehmen, dass die endgültige Erkenntnis die Finsternis ist. Auch das ideale Porträt gelingt nur, wenn sich die Idee über das Gesicht ausgebreitet hat.

Im Nachwort berichtet Ben Lerner von der Wirkungsgeschichte des Romans, der auf die Australier wirkt wie vielleicht Samuel Beckett oder Jorge Luis Borges auf uns Europäer. Wir Alt-Kontinental-Leser sehen vor allem die literarische Kraft der Metaebenen, für die Australier haben diese Sätze alle eine schmerzlich-handfeste Zusatzbedeutung. Und an die Aborigines wagt niemand zu denken, ja es gibt die Schutzbehauptung, dass auf den Ebenen nie Ureinwohner gewohnt hätten. Im metaphysischen Sinn mag das vielleicht sogar stimmen, denn die Ebenen werden ja während der Lektüre mit uns Lesern besiedelt.

Gerald Murnane, Die Ebenen. Roman, mit einem Nachwort von Ben Lerner, a. d. Engl. von Rainer G. Schmidt, [Orig.: The Plains, Melbourne 1982]
Berlin: Suhrkamp Verlag 2018 (= BS 1499), 152 Seiten, 16,50 €, ISBN 978-3-518-22499-1

 

Weiterführende Links:
Suhrkamp Verlag: Gerald Murnane, Die Ebenen
Wikipedia: Gerald Murnane

 

Helmuth Schönauer, 28-06-2018

Bibliographie

AutorIn

Gerald Murnane

Buchtitel

Die Ebenen

Originaltitel

The Plains

Erscheinungsort

Berlin

Erscheinungsjahr

2018

Verlag

Suhrkamp Verlag

Reihe

BS 1499

Übersetzung

Rainer G. Schmidt

Seitenzahl

152

Preis in EUR

16,50

ISBN

978-3-518-22499-1

Kurzbiographie AutorIn

Gerald Murnane, geb. 1939 in Melbourne, lebt in Victoria.