Helga Pregesbauer / Eleonore Weber (Hg.), Corona. Eine Anthologie

helga pregesbauer, coronaBei der Stofflektüre aus dem Ersten Weltkrieg ist es nach hundert Jahren egal, ob jemand in den ersten Wochen gestorben ist, wie Georg Trakl 1914 in Grodek, oder im zweiten Jahr der Katastrophe, wie August Stramm 1915 am Dnjepr-Bug-Kanal.

Corona wird vielleicht in hundert Jahren ähnlich abgekühlt betrachtet werden, noch ist offen, welche Schriftsteller dann literarisch noch am Leben sein werden.

Nach zwei Jahren Pandemie hat der durchschnittliche Rezensent wahrscheinlich fünfzig Corona-Bücher als mitfiebernder Zeitzeuge gelesen. Die meisten dieser Bücher wurden geschrieben, um den Pandemie-Fonds zum Überleben anzapfen zu können. Manchen, die meist auf Zuruf etwas schreiben, gingen in der pandemischen Epoche auch schlicht die Themen aus, sodass sie die Eigenbefindlichkeit von großer Leere mit allerhand Wörtern auszukleiden versuchten.

Die „Fabrik-Anthologie“ der Herausgeberinnen Helga Pregesbauer und Eleonore Weber beinhaltet 42 Autoren, die ihre Texte knapp nach Ausbruch des ersten Lockdowns verfasst haben, um Zutritt zu den Überlebenspaketen zu erlangen. Da es sich bei der Fabrik um ein lebendes, meist analog komponiertes Kulturgebilde handelt, wartete man etwa ein Jahr lang zu, um die gezeichneten Dichter von damals wieder mit Schwung ins neue Leben zu schicken. Da aber noch immer kein Ende abzusehen ist, erscheint die Anthologie wie ein gewöhnliches Dokument aus düsteren Zeiten, wie es im Vorwort heißt.

In Wirklichkeit unterscheidet sich dieses Corona-Buch von anderen, weil es von ausgereiften Persönlichkeiten getragen wird, und nicht von zufällig zusammengewürfelten Leidenden. Außerdem ist die Themenlage für die meisten frisch und durchaus hoffnungsvoll, gilt es doch das angehaltene Leben kurz zu überdenken und etwas Neues zu erfinden.

Schon das Cover lässt sich als „Parolen-Gedicht“ lesen, der Begriff Corona verjüngt sich nach unten hin, indem ihm in jeder Zeile vorne ein Buchstabe weggenommen wird. Am Schluss bleiben NA und schließlich A stehen. Als Patriot denkt man sofort ans europäische Nummernschild, wo im Corona-Blau des Covers das Land als Buchstabe angerufen wird.

Offen gehaltene Anthologien liest man am besten einmal thematisch und einmal nach Personalstand durch. Ein ausführliches Bio-Lexikon stellt in groben Zügen die Schreibenden und Leidenden vor, die sich mit diesem Buch kurz Luft verschaffen.

In neuer Rolle als Pandemie-Opfer sehen sich unter anderem Ilse Kilic, Fritz Widhalm, Isabella Breier, Peter Hodina, Christine Huber, Dine Petrik, Günther Vallaster oder Michael Stavaric. Als Tiroler, die zusätzlich zu Corona an Wien leiden, melden sich Regina Hilber, Markus Lindner und Andreas Pavlic.

Dieser gibt auch den neuen Rhythmus vor, der zu Hause getrommelt wird. In einer achtgliedrigen Chronik berichtet er von einem Farbenspiel aus Kurzarbeit, Homeoffice und eingefrorenem Gestus. Am Schluss ist alles von diesem Corona-Blau erfüllt, das sich auch als Endlos-Cover um die Bücher legt. „Es war / so blau / flugzeugleeres Blau.“ (17)

Helga Pregesbauer versucht das oberste Gebot der Stunde einzuhalten und über alle Dinge, Arbeiten und Gespräche hinweg zu leben: Abstand! Eleonore Weber ruft ein Schreckensszenario ab: Eine infizierte Frau besteigt den Bus! (45)

Regina Hilber legt eine Fotoschau aus, worin Masken aus einer Zeit gezeigt werden, als man sie noch individuell anfertigen konnte durch Schneiderei und Kollage, mittlerweile sind alle Gesichtsaccessoires im klinischen Format gehalten.

In den oft Tagebuchartig geführten Gedankenströmen nisten sich essayistische Überlegungen ein, etwa wenn Martin Schenk einen erstaunlichen Zusammenhang zwischen Corona und Armut herstellt. (172)

Kristina Marlen berichtet von einer „Hure in Quarantäne“ (130), in einer Zeit, wo sich die Individuen in Blasen einkapseln, bleibt offensichtlich noch immer genug Kraft, andere auszugrenzen und ihnen eine zusätzliche Tabu-Blase zu verpassen. Passend dazu entwirft Herbert J. Wimmer ein Gedicht „desinform“, ein Mittelding zwischen falschen Daten und überdosierten Desinfektionsmitteln. (67)

Günther Vallaster experimentiert an einer Sprach-Ampel herum, die wirklich alles darstellen kann, wonach einem an einer entscheidenden Lebens-Kreuzung so ist. (95) Sara Magdalena Ablinger stellt einen Zusammenhang zwischen Herzklopfen und Computer her, die Aufregung ist in beiden Anwendungen ähnlich, vor allem, wenn es schiefgeht. (167) Peter Hodina kommt zu einem profunden Schluss, dass die Spezies schwächelt. (195)

Die Stimmung beim Verfassen dieser Beiträge ist durchaus cool, manche sehen eine gewisse Aufbruchsstimmung gegeben, wenn man endlich einmal jene Kurve angehen kann, die man schon längst kratzen wollte, um aus dem ballistisch angelegten Lebensplan auszusteigen.

Als „querer“ Faden ziehen sich die Zeichnungen Mikki Muhrs durch den Band, die sich auf zwei Denkbewegungen stützen: „Distanzen schaffen“ und „Brücken bauen“.

Eine besondere Anwendung dieser zwei Komponenten beim Denken und Schreiben bringt Markus Lindner ins Spiel. Unter dem Titel „Spätsommer“ evoziert er vorerst eine kompakte Welt im Sinne von Stifters Nachsommer, ehe diese Jahreszeit mit heißen Elementen eines politischen Herbstes unterlegt wird, und schließlich als im pandemischen Chaos gehacktes Signal ins Leere geht.

Es gehe um eine Politik der Symbole, meint ein Minister. Oder war es der Ethik-Experte? (238)

Nach zwei Jahren Pandemie ergibt sich außerhalb der Anthologie eher der Eindruck, dass jene, die es überlebt haben, nichts verändern wollen. Alle wollen dort weitermachen, wo sie in die Krise gestürzt worden sind. Das Leben von früher nämlich gilt mittlerweile als golden und gelungen, das man unbedingt weitermachen muss bis hin zum beschleunigten Weltuntergang. So gesehen sind die Texte von „Corona“ gute Vorsätze, die vom Hunger der Menschheit nach Desaster längst überwuchert sind.

Helga Pregesbauer / Eleonore Weber (Hg.), Corona. Eine Anthologie
Wien: Edition Fabrik Transit 2021, 264 Seiten, 15,00 €, ISBN 978-3-903267-26-8

 

Weiterführender Link:
Edition Fabrik Transit: Helga Pregesbauer / Eleonore Weber (Hg.), Corona. Eine Anthologie

 

Helmuth Schönauer, 23-01-2022

Bibliographie

Erscheinungsort

Wien

Erscheinungsjahr

2021

Verlag

Edition Fabrik Transit

Herausgeber

Helga Pregesbauer / Eleonore Weber

Reihe

Corona. Eine Anthologie

Seitenzahl

264

Preis in EUR

15,00

ISBN

978-3-903267-26-8

Kurzbiographie AutorIn

Helga Pregesbauer, geb. 1977 im Waldviertel, lebt in Wien.

Eleonore Weber, geb. 1966 in Wien,lebt in Wien.