Judith W. Taschler, Über Carl reden wir morgen.

judith w. taschler, über carl reden wir morgenJe katastrophaler die Gegenwart empfunden wird, umso mehr weichen Romane in die Vergangenheit aus. Eine Familiengeschichte, die kurz nach dem ersten Weltkrieg aufhört, beruhigt aufgewühlte Pandemie- und Kriegsseelen gleichermaßen.

Judith W. Taschler erklärt in einem Begleitinterview zur Präsentation ihres Romans „Über Carl reden wir morgen“, dass sie sich aus dem frustrierenden Pandemiegeschehen ausklinken wolle, weshalb sie einen Stoff recherchiert habe, den eine Mühlviertler Familie so in etwa vielleicht im 19. Jahrhundert erlebt hat. Historie dient also zur Entspannung, weil man immerhin weiß, wie die Geschichte zu einem gewissen Zeitpunkt ausgegangen ist. In diesem Falle endet der Roman gegen 1920 und lässt genug Spielraum, ihn vielleicht bis in die Gegenwart heraufzuführen, wenn diese später einmal weiß, was sie will.

Die Autorin wird seit ihrem Roman „Die Deutschlehrerin“ (2013) geschätzt wegen ihrer ironischen Metaebene, sie erzählt nämlich im Hintergrund immer die Erwartungen des Literaturbetriebes mit und stört diese mit nicht erwartbaren Erzählstrategien.

Der aktuelle Familienroman spielt rund um die Hofmühle im Mühlviertel. Dem Roman ist als Lesezeichen ein kleiner Stammbaum beigefügt, worauf die wichtigsten Vermehrungsknoten aufgezeichnet sind. Diese kleine Skizze ist auch notwendig, denn im Roman werden die Figuren quasi als Aussaat über dem Frühlingsacker ausgestreut, so dass man von vornherein mit großem Personalstand rechnen muss. Und wenn, wie auf den ersten Seiten, jemand stirbt, ist man als Leser froh, dass man dessen Spur nicht mehr weiterverfolgen muss.

Der Start ist fulminant: Sex am Land! In den 1820er Jahren packt der Nachbar die Nachbarin aus, beide erschrecken, weil es jetzt unter der Decke zu einem Abenteuer kommen wird. Und die Erzählposition gibt auch gleich die richtige Einschätzung ab: Die Frauen tun gut daran, sich ihren Teil zu denken und die Männer gewähren zu lassen, vielleicht mit einem wissenden Lächeln in der Dunkelheit des Schlafzimmers. Andererseits wissen schon kleine Buben, dass es gut ist, wenn man männlich ist. Bei seiner ersten Beichte gesteht der Junge, dass er froh ist, ein Mann zu sein, worauf der Beichtvater ebenfalls wissend in der Dunkelkammer der Sprechkabine zu lächeln beginnt.

In einem solch fulminant-ironischen Erzählwerk ist das Leben von drei Generationen eingespreizt, als dramaturgisches Gerüst dienen dabei fünf Kapitel, die jeweils als Traumpaare des Überlebens ausgestaltet sind. Also Anton und Rosa (7), Albert und Anna (67), Emil und Hedwig (144), Carl und Luzia (253), Eugen und Hedwig (403).

Die einzelnen Paare haben über Jahrhunderte hinweg die gleichen Aufgaben zu erledigen, sie müssen zuerst einmal zueinander finden, meist tun sie dies in umfangreichen Briefen, worin sie ihre Glücksvorstellung darlegen mit der Bitte, der oder die Angeflehte möge dabei helfen, zum zweiten gilt es, das Leben ökonomisch zu meistern, wobei die Hofmühle oft nur dazu dient, dass man von ihr aus in die weite Geschäftswelt hinauszieht, schließlich gilt es, sich ordentlich zu reproduzieren, wobei sich immer wieder schlechte Gene und Erblinien einschleichen, zuallerletzt heißt es, das eigene Leben mit einem Narrativ zu versehen, sodass auch die nächste Generation darauf aufbauen kann.

Auf dieses interne Narrativ spielt auch der Romantitel an. „Über Carl reden wir morgen“ dient als Floskel, um heiße Themen zu umgehen, oder zumindest noch einmal darüber zu schlafen, ehe man sie anpackt.

Mit diesem internen Regulativ kämpfen auch die jeweiligen Kids, wenn sie sich von den Alten die eigene Geschichte erzählen lassen. Wie in einem modernen Krimi, wo der Kommissar ja auch alle Kapitel zusammenfasst, um den bisherigen Stand der Ermittlungen zu überprüfen, (in Wirklichkeit macht er das, weil der Leser schon wieder alles vergessen hat), wie in einem Krimi lassen sich die Nachfahren immer den Stand der Familiensaga erzählen, und der Leser wird in Spannung gehalten, wo gelogen wird und wo verbrämt.

Die Hofmühle dient in der Hauptsache als Bollwerk gegen die Fliehkräfte der Familienmitglieder. Selbstverständlich wird sie zwischendurch verwüstet, von einem Tunichtgut aus den eigenen Reihen in Brand gesteckt, und immer wieder ausgebaut und erweitert. Die Clan-Mitglieder freilich drängt es stets hinaus in die Welt, und sei es nur, um die Zeitgeschichte hautnah zu erleben. So gibt es Holzhandel mit Kolonien, Kammerdienste bei Adeligen in Wien, Revolutionsversuche, Expeditionen, Weltkriege und Auswanderung nach Amerika.

Alle diese Ereignisse werden vor Ort erlebt und authentisch erzählt mit dem Hintergedanken, die Auswirkungen der großen Geschichte auf das Mühlviertler Individuum darzustellen.

Selbstverständlich hat die Autorin diese Weltereignisse bestens recherchiert und gut verpackt. Ihr größter Speicher freilich ist die Literaturgeschichte selbst, die raffiniert angedeutet, verdreht und aktualisiert wird.

So kann man das erste Kapitel, als Rosa vom Mühlviertel aus nach Wien fährt, um an einem Palais zu dienen, als angewandte Biographie des Adalbert Stifter lesen. Während in seinem Nachsommer von einem Risach die Rede ist, dient Rosa einem Reisach (28). Wo Stifter in einer Doppelbeziehung unglücklich und verfressen wird, wird Rosa vom Hausherrn wortlos genommen und muss ihren Leib auf einem Gebär-Bauernhof in der Vorstadt zu Markt tragen. Allein die Überlegung, die Literaturgeschichte mit weiblichen Insignien und Demütigungen zu erzählen, entlarvt die übliche Literaturgeschichte als ziemlich verlogene Hagiographie.

Ähnlich lässt sich der Amerika-Aufenthalt von einem der Zwillingsbrüder lesen, Eugen flüchtet rechtzeitig vor dem ersten Weltkrieg nach Amerika, und spielt in etwa den Karl Rossmann von Franz Kafka nach. Freilich geht er über das Naturtheater von Oklahoma hinaus und betreut in St. Louis ein Waisenhaus, mit allen sexuellen Komponenten, die bei Kafka nur angedeutet sind. Auch hier wird die Literaturgeschichte als Mythos entlarvt, der stracks zusammenbricht, wenn jemand das tut, was die literarischen Vorbilder sich so ausgemalt haben.

Gegen Ende kommt es um das Zwillingsmotiv herum noch einmal zu einem großen Showdown. Der gelernte Leser weiß, wenn Zwilling kommt, kommt Verwechslung, Komödie oder Tragödie. In diesem Falle flüchtet der eine aus Amerika zurück und der andere desertiert. Das kann nicht gutgehen, und bringt die Hofmühle nach Kriegsende in ernste Schwierigkeiten.

Judith W. Taschler erzählt so geschickt, dass beide Lesetypen befriedigt werden. Die einen, die eine Mühlviertelsaga mit klappernder Mühle wollen, und die anderen, die hinter jeder Ecke einen Stifter oder Kafka sehen.

Letztlich kommt beim Lesen noch eine späte Pandemieerfahrung ans Tageslicht. Die Figuren von früher, als man ohne Netz auf den Höfen und in der Welt herumsitzen musste, gleichen stark unserem Leben, als wir ohne Kontakt mit Masken auf den Balkonen sitzen mussten und uns zugerufen haben: Darüber reden wir morgen!

Judith W. Taschler, Über Carl reden wir morgen. Roman
Wien: Zsolnay Verlag 2022, 459 Seiten, 24,70 €, ISBN 978-3-552-07292-3

 

Weiterführende Links:
Zsolnay Verlag: Judith W. Taschler, Über Carl reden wir morgen
Wikipedia: Judith Taschler

 

Helmuth Schönauer, 10-02-2022

Bibliographie

AutorIn

Judith W. Taschler

Buchtitel

Über Carl reden wir morgen

Erscheinungsort

Wien

Erscheinungsjahr

2022

Verlag

Zsolnay Verlag

Seitenzahl

459

Preis in EUR

24,70

ISBN

978-3-552-07292-3

Kurzbiographie AutorIn

Judith W. Taschler, geb. 1970 in Linz, lebt in Innsbruck.