Christian Meier, Die politische Kunst der griechischen Tragödie
„Die griechischen Tragödien waren für die attischen Bürger bestimmt. Nicht für ein spezielles Theaterpublikum, sondern für die ganze Bürgerschaft der mächtigsten Stadt jener Welt. […] Es ist unbestreitbar, dass die attische Bürgerschaft im fünften Jahrhundert von ganz außerordentlicher Beschaffenheit war und sich in einer ganz außergewöhnlichen Lage befand. Zum ersten Mal in der Weltgeschichte war es dazu gekommen, daß die breiten Schichten der Bürgerschaft regelmäßige, kräftige Mitsprache und schließlich den entscheidenden Anteil an der Politik erlangten.“ (S. 7)
Christian Meier geht in seiner historischen Monographie der Entstehung und Festigung der ersten Demokratie der Weltgeschichte in Athen im 5. Jahrhundert v. Chr. nach und zeigt die Bedeutung der klassischen griechischen Tragödien dieser Zeit für die Selbstreflexion eines politischen Systems, das so neu war und sich abseits der gewohnten Pfade bewegte, dass es auf keine Vorbilder als Referenz verweisen konnte.
Nach einer kurzen Einführung, wozu die attischen Bürger eine Tragödie gebraucht haben. wird politische Entwicklung Athens nachgezeichnet, die während der Zeit der Perserkriege eine bis dahin ungeahnte Geschwindigkeit und Richtung einnahm. Dabei wird aufgezeigt, wie sich die Stadt von einem relativ unbedeutenden, wenn auch großen Gemeinwesen in der archaischen Zeit zur führenden Stadt Griechenlands im 5. Jahrhundert v. Chr. entwickeln konnte. Mit den Reformen der politischen Ordnung durch Kleisthenes und dem Aufbau einer mächtigen Seeflotte erringt Athen neben Sparta die Vorherrschaft in der griechischen Welt. Und mit dem sukzessiven Ausbau der direkten Demokratie, in der die politischen Entscheidungen von allen Bürgern getroffen werden, entsteht politisches Denken und Bewusstsein, das mit allem bisher gekannten bricht.
Meier zeigt auf, wie diese Neuorientierung des Denkens und Handelns bei den attischen Bürgern in den jährlich in Athen aufgeführten Tragödien reflektiert wird. Dabei werden die großen bekannten und noch erhaltenen Tragödien des Aischylos, des Sophokles und des Euripides nach ihrem politischen Gehalt und ihrer gesellschaftlichen Dimension in dieser Zeit der demokratischen Entwicklung und Bewegung analysiert. In diesem Zusammenhang wird die wichtige Rolle der Feste für Athen näher erläutert, deren Bedeutung weit über die reine Unterhaltung hinausgegangen und eine wichtige politische Funktion zugekommen ist.
Den Anfang der Interpretation der Tragödien zum Fest der Großen Dionysien macht Aischylos‘ Tragödie „Perser“, in der sich die gegensätzlichen Herrschaftsformen Monarchie und Demokratie sowie alte und neue Ordnung gegenüberstehen. Seine weiteren Tragödien „Hiketiden“, die Trilogie „Orestie“ mit den Stücken „Agamenon“, „Choephoren“ und „Eumeniden“ sowie „Prometheus“ verarbeiten in mythologischem Gewand die politischen Verhältnisse, Spannungen und Gegensätze im demokratischen Athen und versuchen Orientierung in einem neuen Bezugssystem geben.
Wie sehr auch die Tragödien des Sophokles einen politischen Bezug aufweisen, wird in den Tragödien Aias und Antigone analysiert, in denen das neue Selbstverständnis Athens auch gegenüber seinen Bundesgenossen und seinem Verhältnis zu althergebrachten Richtlinien Kritik findet.
Von Euripides, der wieder eine Generation später gewirkt hat, kommen die meisten Tragödien zur Sprache, in denen sich Höhepunkt und Niedergang Athens während des Peloponnesischen Krieges widerspiegeln. Vorgestellt und auf ihren gesellschaftlichen Bezug gedeutet werden seine Tragödien „Die Herakliden“, „Die Hiketiden“, „Hekabe und die Troerinnen“, „Phönissen“, „Orest“, „Die Bakchen“ und „Iphigenie in Aulis“.
Christian Meier gelingt es überaus anschaulich anhand der klassischen attischen Tragödien das spannungsgeladene Denken und Reflektieren über die Entwicklung der Demokratie, die Möglichkeiten und Gefahren sowie die Einordnung des Unbekannten in eine tradierte Ordnung aufzuzeigen. Dabei erleben die Leserinnen und Leser wie sehr das Leben des athenischen Demos im politischen aufgegangen ist und in diesem Zusammenhang die Tragödie eine immens politische Aufgabe erfüllt hat.
„Die politische Kunst der griechischen Tragödie“ zeigt, wie sich ein politisches System versucht, seiner selbst gewiss zu werden und die Spannungen einer sich im Umbruch befindliche Gesellschaft zu bewältigen. Eine Gesellschaft, die sich durch eine alle sozialen Schichten umfassende Bürgerschaft auszeichnet und deren Ausmaß an politischer Entscheidungsgewalt weder vorher noch nachher in der Geschichte wieder erreicht worden sind. Ein überaus lesenswertes Sachbuch, das auch anregt, über die demokratische Entwicklung und die demokratischen Möglichkeiten unserer Gegenwart zu sinnieren.
Christian Meier, Die politische Kunst der griechischen Tragödie
München: C. H. Beck Verlag 2022, 285 Seiten, 30,00 €, ISBN 978-3-406-79066-9
Weiterführende Links:
C.H. Beck Verlag: Christian Meier, Die politische Kunst der griechischen Tragödie
Wikipedia: Christian Meier
Andreas Markt-Huter, 14-12-2022