Ludwig Roman Fleischer, Weana Gschicht und Weana Gschichtln
Das Buch von der Wiener Universal-Geschichte betritt man am besten, indem man wie durch einen akustischen Triumphbogen der Sprache mit zwei CDs hineinhüpft in den Text. „Weana Gschicht“ ist eine mündliche Angelegenheit, gleichsam öffentlich wie intim. Im Vorsatz sind die beiden güldenen CDs eingeklemmt. Der beigestellte Buchtext hat die Funktion, das Auge still zu halten, damit sich das Gehör konzentrieren kann. Wie eine Partitur zeigt der Text vor allem die Gliederung, die dem Jahrhundertwerk innewohnt.
Ludwig Roman Fleischer ist ein Sprachkünstler und Erwachsenenbildner. Mit seinem ironischen Duktus stellt er fürs erste klar, dass man ruhig seiner Stimme lauschen kann, es wird keine spannendere in der nächsten Zeit auftreten. Und die voluminöse Prägnanz gibt dem Vortrag jene Glaubwürdigkeit, die es braucht, um die volle Wucht des Themas „Geschichte“ auszuhalten.
Der Ablauf des Auftritts ist logisch wie die Geschichte, hält er sich doch an die Faustregel der Historiker, wonach die Geschichte selbst noch nie einen Fehler gemacht hat, sie ist nämlich immer genau so wahrhaftig, wie sie abläuft.
In einem launigen Kommentar lässt der Autor vergessen, dass es ja raffinierte Didaktik ist, was hier teils mit Gelächter, teils mit Verblüffung unter die Haut geht und sich dort als Binsenweisheit verankert.
So ist ein Nachwort immer für den „Oasch“, weil dort nur mit Danksagungen in diversen Öffnungen von nichtöffentlichem Personal herumgekrochen wird, daher gibt es hier, versprochen, kein Nachwort. Und das Vorwort beschränkt sich auf das Vorstellen zweier historischer Spielregeln.
- Je näher die Gegenwart beim Erzählen heranrückt, umso umfangreicher wird der Stoff.
- Je weiter weg der Stoff ist, umso weniger regt er einen auf.
Am Beispiel Bürgerkrieg 1934 sind mittlerweile in Österreich die Gemüter abgekühlt und so lässt sich die Geschichte teilweise schon ohne persönliche Ressentiments erzählen. Andererseits sind die Fallbeispiele Kurz oder Haider noch ein wenig temperiert und lassen immer noch Fans und Verhöhner erregt aufbrausen, weshalb man diese Namen eher in Nebensätze stellt und die Geschichte am Beispiel vergessener Künstlerinnen vorträgt. (Wer vergessen ist, kränkt niemanden mehr.)
Aus dieser Erkenntnis sprießen auch die Miniporträts, sogenannte Wiener Originale, die als Interludien eingespielt werden, Paula Wessely, Helmut Qualtinger, Waluliso oder Schneckerl Prohaska etwa.
Genaugenomen sind diese Porträts die tragenden Elemente der Weana Gschicht, an ihnen tobt sich nämlich die große Geschichte in Wort und Tat aus.
Im Wienerischen gibt es unzählige Möglichkeiten, das historisch kalte „Sterben“ mit Saft und Leben auszugestalten. Wenn also der Erscheinungskünstler Waluliso ein Bankl reißt, ist das ein dynamischer Vorgang, der ein besonderes Leben zum Abschluss bringt. Wenn aber nach dem Ersten Weltkrieg der „Kaiser Koal“ ein Bankl reißt, staunt man zuerst, dass er zu so etwas überhaupt fähig ist. Und plötzlich wird klar, dass hinter den historischen Vorgängen zumindest beim Sterben ein individueller Vorgang steckt. Koal wird letztlich für das gelungene Sterben belohnt durch Seligsprechung.
Die großen und kleinen (Dollfuß) Figuren geraten ins Fröhlich-Melancholische, wenn es aus ist mit ihnen, und der Vortragende ohne Emotion auf den Lauf der Geschichte verweist.
Die Geschichte von der Monarchie bis zur Pandemie lässt sich so in einem Atemzug erzählen, freilich hält sich das Programm an die übliche Kapiteleinteilung Kieg, Nachkrieg, Kreisky, zwischen Ständestaat und Anschluss muss man freilich die CD wechseln.
Das eigentliche Thema freilich ist die Sprache, woraus die Geschichte erst entwickelt werden muss. Dabei zeigt sich die Historie in sprachlichen Ablagerungen: In Echtzeit besteht sie meist aus Lügen, später verbreitet sie sich in Form von Schlagzeilen, die ersten Absätze von Essayistik kommen hinzu, zwischendurch wird allerhand in Dokumente gegossen und schließlich archiviert. Für alle diese Vorgänge gibt es eine eigene Gebrauchssprache, die im Vortrag wie aus einem Guss wirkt. Die Szenerie erinnert an die klassische Wiener Volkshochschulsituation, die ähnlich wie der Wohnbau und die Kunst des Piktogramms zu den Grundpfeilern der Weana Kultur gehört.
Der Vorgang des Erzählens ist intim, man ist der Archi-Zuhörer, wenn man vor der CD sitzt, gleichzeitig sitzt man in einem durch Jahrzehnte angestauten Sprachtopf voller Emotionen, denn der Sprachgebrauch ist ja nach Wittgenstein etwas Öffentliches.
Diese Art des Vortrags lässt zwei Quellen in den Fokus rücken: Einmal sind es die „letzten Tage der Menschheit“, worin Karl Kraus den Ersten Weltkrieg in seinem Sprachreaktor erst richtig zur Explosion bringt, zum anderen ist es Helmut Qualtinger, der sich als Herr Karl unterirdisch im Weinkeller des eigenen Sermons einsperrt und die Tiefenstruktur der österreichischen Seele bearbeitet. In einem himmlisch-romantischen Bild hocken dann auch Karl Kraus und Helmut Qualtinger im Himmel und schenken sich jeden Tag eine Portion frisch gekelterte Sprache ein.
Allmählich vergisst man beim Zuhören, dass es ja ein Kunstwerk ist, das Ludwig Roman Fleischer vorstellt. Man gewöhnt sich so an seine Denk- und Sprechweise, dass man glaubt, die Geschichte sei wirklich so abgelaufen. Wenn die verwendeten Wörter, Schmähs und Fügungen so überzeugend echt sind, dann müssen ja auch die Situationen echt gewesen sein, die zu dieser Sprache geführt haben.
Im Schlusskapitel über Schneckerl Prohaska wird auf diesen Zusammenhang zwischen „echt“, Sprache und Situation hingewiesen. Schneckerl hat nach seiner aktiven Zeit als Kicker sich zu einem Sprach-Kicker entwickelt. Alles, was er sagt, ist ein genialer Pass, ein subtiler Einwurf oder ein überirdisches Tackling. So wie der früher gespielt hat, redet er jetzt!
Und so kriegt man als Leser diese Kurve ins Witzig-Schöne hinein: Ludwig Roman Fleischer erzählt Geschichte, wie Schneckerl Prohaska Fußball spielt. (Der Autor ist nicht umsonst ein sogenannter Violetter.)
Wenn schon der Autor kein Nachwort duldet, so soll wenigstens in der Rezension eines auftauchen, damit es etwas für den „O“ gibt.
Aus einem geheimen Dialekt-Gutachten:
Im Weana Dialekt hockt man zusammen und trinkt das berühmte Glaserl, während zumindest einer am Tisch Schmäh führt und etwas erzählt.
Im Tiroler Dialekt hockt man mit einem Stamperl im Freien und wartet, dass Tiere oder Touristen vorbeikommen, um ihnen was mit dem Kehlkopf vorzuröcheln. Zu was anderem taugt der Tiroler Dialekt nämlich nicht.
Ludwig Roman Fleischer, Weana Gschicht und Weana Gschichtln. Fom End fon da Maynachie bis häht. Geschichte Wiens auf Wienerisch. + 2 CD
Klagenfurt: Sisyphus Verlag 2022, 125 Seiten, 18,00 €, ISBN 978-3-903125-64-3
Weiterführende Links:
Sisyphus Verlag: Ludwig Roman Fleischer, Weana Gschicht und Weana Gschichtln
Wikipedia: Ludwig Roman Fleischer
Helmuth Schönauer, 09-06-2022