In der Prokulus-Kirche bei Naturns sitzt eine Figur auf einem gemalten Seil und schaukelt. Sie macht das so kühn und jenseits aller physikalischen Gepflogenheiten, dass die Menschen ihre Reise abbrechen und nachschauen, was es mit diesem Fresko aus alter Zeit auf sich hat. – Ist es überhaupt Kunst, was es da zu bestaunen gilt? Ein Kind sagt dazu verblüffend klar: Es ist ein Engel!
Selma Mahlknecht setzt mit ihrem Roman „Schaukler“ ein aufregendes Zeichen, wie man als kleiner Punkt auf der irdischen Weltkarte mit der großen Geschichte und dem Lauf der Welt umgehen könnte. Ihr Roman zelebriert hundert Jahre frische Entdeckung der mittelalterlichen Fresken rund um den Schaukler in Naturns 1923.
Dabei verwendet sie eine raffiniert klare Dramaturgie des Erzählens. Elemente aus dem Fresko werden zu Emblemen extrahiert und liefern die vier Kapitel der letzten hundert Jahre im Vinschgau.
- „Die Herde“ (1923-1946) erzählt vom gezwungenen oder freiwilligen Mitrennen im Faschismus, der auf dem Herdentrieb aufbaut.
- „Das Heilige“ (1947-1975) widmet sich einer geläuterten politischen Lebensauffassung, wonach gewisse Tugenden des Religiösen auch im profanen Lebensbereich Erfüllung bringen könnten.
- „Aller Augen“ (1976-1999) zeigt in unverhüllter Manier, wie Prosperität und ungenierter Weltgeist die Lebensqualität letztlich ausdünnen.
- „Die dunkle Schwelle“ (2000-2023) warnt davor, die allgegenwärtigen Bedrohungen zu vertuschen und zu verdrängen.
Diese vier Fresken-Kapitel sind einerseits als Bildbeschreibung den Zeitabschnitten vorangestellt, andererseits mit einer Chronik der Ereignisse im Nachspann unterlegt.
Dieses Erzählgerüst kommt auch im sogenannten Figuren-Set zum Vorschein, worin auf einem Tableau die einzelnen Personen des Romans, ihre Berufe, Höfe und sozialen Verflechtungen erläutert sind.
Ein echter Roman kann natürlich auch emotional mit dem Bauch gelesen werden, von vorne nach hinten, eine wundersame Begebenheit nach der anderen.
Für diese Lesart hat die Autorin den Helden Hans „erfunden“, er wird als lediges Kind in das teilweise verfilzte Sozialgeflecht hineingeboren. Als ob das nicht genug wäre, um als Außenseiter die Außenperspektive zu bedienen, verunfallt er noch bei einer Rangelei unter Kindern und kann nur durch besondere Geduld und Eigeninitiative zu einer anerkannten Persönlichkeit werden.
Hans begegnet einem Malermeister, der den ganzen Landstrich mit Sprüchen und Lüftlmalereien bereichert. Mit jedem Anrühren von Farbe entsteht jener Konflikt, der dem Schaukler innewohnt. Ist es eine pragmatische Nachricht? Ist es himmlische Kunst?
Die Botschaften ändern sich laufend. Allein die Abfolge von Faschismus, Option, Nazitum, Paket, Kriegerdenkmal, Fremdenverkehr und Overtourismus braucht jeden Tag einen neuen Farbkübel, um die Botschaft irgendwo an die Wand zu malen.
Letztlich ist die Geschichte eines Landes ein Fresko, das ständig übermalt und freigelegt werden muss.
Im Roman sind die Ereignisse von hundert Jahren „ausgemalt“ in Dialogen, Schicksalsschlägen, Glücksverbindungen und Unfalltragödien. Im Alltag lässt sich nur schwer jene Leichtigkeit unterbringen, die der Schaukler bei seinem Ritt durch das Fresko auslöst.
Als etwa ein Kriegerdenkmal gestaltet werden soll, brechen alle diese Verquickungen jäh on der Öffentlichkeit auf. Und auch hier hilft nur der Vierer-Schritt des Freskos: Die Herde mit heiligen Ideen zu unterwandern, bis diese mit offenen Augen vor dem dunklen Abgrund Halt macht.
Die Zugänge zu diesem „historischen“ Roman über das unscheinbare Kirchlein bei Naturns sind mannigfaltig, wie die Bewegungen des Schauklers, von dem wir ja auch nicht wissen, wie oft er schon von einem Endpunkt der Bahn bis zum anderen gependelt ist.
Und jedes Mal, wenn sich die Helden des Romans zu einer neuen Runde zusammenfinden, um zu heiraten, zu emigrieren, heimzukehren oder zu sterben, nickt die Figur aus dem himmlischen Fresko. Beim Lesen und Deuten der Zusammenhänge kann man sich letztlich sogar zu der Fügung hinreißen lassen: Der Schaukler nimmt uns samt unserem Schicksal auf die Schaukel!
Selma Mahlknecht, Schaukler. Roman
Bozen: Edition Raetia 2025, 444 Seiten, 28,00 €, ISBN 978-88-7283-942-3
Weiterführende Links:
Edition Raetia: Selma Mahlknecht, Schaukler
Wikipedia: Selma Mahlknecht
Helmuth Schönauer, 14-02-2025