gerhard ruiss, kanzlerresteDie politische Realverfassung eines Landes zeigt sich nicht zuletzt im Sprachgebrauch. Einerseits werden Begriffe immer bedeutungsloser und austauschbarer, wenn sie in den politischen Diskurs geraten, anderseits werden sie auch stets lächerlicher und verpönter, bis hin zum berühmten N-Wort.

Am Beispiel des österreichischen Sprachgebrauchs von „Kanzler“ lässt sich vortrefflich zeigen, wie durch permanenten Fehlgebrauch einer neutralen Berufsbezeichnung innerhalb eines Generationswechsels ein Schimpfwort geworden ist, das auf dem Weg zur kompletten Verachtung ist.

dine petrik, handgewebe lapisblauGroßes Stimmungskino kann in der Literatur oft mit einem Farbton umschrieben werden, man denke an die rosa Brille oder den alle Sinnesorgane umfassenden Blues.

Dine Petrik setzt ihre Gedichte hinter eine Linse aus „lapisblau“, fein assoziierend, dass rare Farben oft herhalten für politische Formationen, man denke nur an die Blauen oder die Türkisen. Das Genre „Handgewebe“ deutet freilich auf manuelle Kunstfertigkeit hin, auf Geduld von Gewebe und fein gegliederter Stofflichkeit. Ein mit der Hand geschriebener Text kann so als Textur von einzigartigen Arbeitsschritten gelesen werden.

fiston mujila, kasala für meinen kakuEine magische Botschaft besteht üblicherweise aus einem Schlüssel ohne Schloss. - Im Falle der Literatur freilich entsperrt diese Botschaft das gesamte Buch.

Fiston Mwanza Mujila gibt seinem Gedichtband ein Rätsel als Überschrift: „Kasala für meinen Kaku“. Anschließend verschwindet er ins Buchinnere, um freilich in einem prächtigen Interview seine Theorie einer interkontinentalen Literatur darzulegen. Dabei werden auch die Fachbegriffe für deutschsprachige Lesende erklärt, das Interview ist in der Kolonialsprache Französisch gehalten. Überhaupt handelt es sich beim „Kasala“ um ein „Wendebuch“, je nach Bedarf lässt sich das Buch so halten, das vorne die gewünschte Sprache auftaucht und hinten seitenverkehrt die andere.

simon konttas, der lauf aller dingeGedichte sind letztlich Vorschläge für Rituale, mit denen das Nicht-Messbare gemessen und das Nicht-Fixierbare eingefangen werden kann. Dabei wird „der Lauf der Dinge“ für Augenblicke als Andeutung einer Bewegung sichtbar, während diese Dinge schon wieder verschwunden sind.

Simon Konttas hat zum Einfangen der flüchtigen Dinge ein weißes Netz aus Papier gewählt, dieses wird durch die Zeit gezogen wie ein Filter für halb ausgestorbene Insekten, – und am Ende der Schreibbewegung sind vierundzwanzig Gedichte eingefangen und liegen auf dem Weiß als zappelnde Zeilen und Wort-Partikel.

kirstin schwab, wir teilen unser ungleichgewichtIn schwärmerischen Naturbeschreibungen der Romantik wird öfters beschworen, dass es das Ungleiche ist, das in der Natur die Lebewesen zuerst von einander in Schach hält, ehe sich dann ein harmonischer Zustand einstellt. – Im politischen Diskurs hingegen gilt das Ungleichgewicht meist als Anlass, geeignete Maßnahmen zu setzen, und sei es nur, dass man sich wie Justitia die Augen verbindet. - In der Liebe hingegen brauchen diese Augen nicht verbunden zu werden, denn die Liebe macht ja von sich aus blind.

Kirstin Schwab kümmert sich in ihren Gedichten um dieses Ungleichgewicht, das die Seelen umgibt, manchmal als schwere Krise einer Lebensentscheidung, dann wieder als stilles Ungemach, das einen unerwartet beschleicht. Der Übergang der Befindlichkeit von poetischer Erregung in profane Erschlaffung ist fließend und funktioniert in beiden Richtungen.

wilfried steiner, die wilde fahrt des arthur rimbaudEin gutes Lesebändchen ist stets aufgeregt, wenn es wo eingelegt wird. Es kommuniziert mit den Lesern und fragt stumm, warum es in welcher Reihenfolge wo eingelegt wird.

Wilfried Steiner lässt seinen Essay über ein Gedicht von Arthur Rimbaud mit einem Lesebändchen versehen, weil man stets zwischen den drei Zugängen zum Gedicht vom „trunkenen Schiff“ hin und her springen soll. Am besten, man geht die Sache von hinten her an.

Im letzten Kapitel wird in der sogenannten Rimbaud-Zeittafel (48) im Stile eines Abenteuerromans das Leben eines Autors erzählt, den man heutzutage in manchen Kreisen als Franzosen-Beatnik einstufen möchte. Als pubertierendes Kind rennt er dreimal von der Mama weg und muss von der Polizei eingefangen und zurückgebracht werden. Dann gibt es kein Halten mehr, er knüpft erste Kontakte zum literarischen Establishment in Paris, um sich gleich wieder abzuwenden. Angeblich hält er es nirgendwo länger als 14 Tage aus.

katharina ferner, krötentageDie Nachrichtenwelt verschiebt sich ständig wie die Platten der Erdkruste. Stoßen die Textblöcke aneinander, sind oft Erschütterung und Vulkanismus angesagt. Das Individuum wird von dieser Lage mitgerissen und schützt sich, indem es sich mit einem Panzer aus Eigensinn und Eigenwelt umgibt. In dieser Erregungszone gedeihen Liebesgedichte meist vortrefflich, weil sie durch Abschirmung, Ironie und Abschweifung das Intime mit dem Zeitgeist in Verbindung bringen.

Katharina J. Ferner nennt diesen Erregungskosmos „krötentage“ und verweist in der Anmoderation des Innencovers darauf, dass es sich dabei um die alte Gattung der Liebeslyrik handelt. Und im Stile eines überschwänglichen Essays kommt bald einmal das Programm zum Vorschein:

tomaz salamun, steine aus dem himmelGedichte sind das Ringen um das, was Gedichte sind. Dabei sind diese vielleicht nur Steine aus dem Himmel.

Tomaž Šalamun ringt ein Leben lang um diese logischen Fügungen, die in einfachen Sätzen darstellen, was niemals einfach gesagt werden darf. Verwegen schickt er sein lyrisches Ich zwischen die Zeilen, um Unruhe durch Einfachheit auszulösen.

jörg zemmler, wir wussten nicht warumWahnsinnigen wird oft der Seufzer nachgerufen: Denn sie wissen nicht, was sie tun. Dabei wissen diese bloß nicht, warum. Jörg Zemmler lässt ein „wahnsinniges Wir“ in seinen Gedichten auftreten. Selbstbewusst kommen Figuren und Fügungen zur Geltung, die es vor allem mit der Liebe haben. Der Untertitel präzisiert es: „Nur Zweifel gab es keine.“ – Hier sind vielleicht Missionarische am Werk.

Man liegt als Lesender nie falsch, wenn man einen Lyrikband vor dem Lesen durchzappen lässt wie ein Daumenkino. Die rasch vorüberzischende Textur offenbart dabei einen ersten Eindruck, ob etwas kompakt, fragil oder erschlagend ist.

hannes vyoral, ostinatoUnter Tagebuch versteht man einerseits den Hinweis auf die Ausdauer chronologischen Schreibens, andererseits ist es ein literarisches Genre, das durchaus mit einer solitären Bedeutung unterlegt sein kann.

Hannes Vyoral überschreibt sein Tagebuch rund um den Beginn der 2020er Jahre mit „Ostinato“, womit musikalisch eine Figur gemeint ist, die sich ständig wiederholt. Im Literaturbetrieb wird Ostinato manchmal als letztes Kapitel einer Biographie verwendet, um auf den Kreislauf einer Entwicklung jenseits des Linearen hinzuweisen.

Bei Hannes Vyoral „dreht“ sich im Ostinato alles um den Verlauf des Jahres, und wenn das eine Jahr vorbei ist, kommt das nächste, überraschend gleich ausgeprägt und dennoch völlig anders.