Tiroler Gegenwartsliteratur

Ada Zapperi Zucker, In Südtirol und anderswo

h.schoenauer - 10.06.2022

ada zapperi zucker, in südtirol und anderswoWenn einmal das große Wirtschaften die Macht übernommen hat, wird davon auch die Literatur eines Landes berührt. Bei Büchern über Südtirol denkt man meist an Krimis, Hotelprospekte und Sommerfrische-Storys. Kaum jemand kommt auf Anhieb auf die Idee, dass sich unter dem Label Südtirol auch Schicksale, Erzählungen und Lebensgeschichten verbergen könnten.

Ada Zapperi Zucker überrascht Land und Leser mit einer alten Weisheit: Wenn du die Geschichte eines Landes verstehen willst, musst du dir von den Alten erzählen lassen, wie es aus ihrer Sicht gewesen ist. Aus den oft vertrockneten Mündern lassen sich manchmal alte Plots heraushören, sie sind aus klaren Farben wie eine Grundierung von Himmel, wenn die Wolken der Zeitgeschichte aufgerissen haben.

Elias Schneitter, Civetta

h.schoenauer - 03.06.2022

elias schneitter, civettaDas Kind kommt zum ersten Mal in die Provinzstadt und ist erschlagen von der Weite und Undurchdringlichkeit der Stadt. Es kann nur einzelne Wörter lesen und merkt sich den Straßennamen Resselstraße, sollte es verlorengehen. Dort nämlich wohnen Bekannte. Aber o Wunder, der Name Ressel geht ein Leben lang nicht mehr aus dem Kopf, er steht für Abenteuer, Sicherheit und Orientierung. Diese drei Dinge verspricht auch die Literatur, weshalb ein Leser immer Züge des Josef Ressel an sich hat, wie das erwachsene Kind eines Tages bemerkt.

Elias Schneitter trägt schon ein Leben lang die Geschichte des Josef Ressel ungelöst und voller Bewunderung mit sich herum. Lange sind seine Fragmente in diversen Schatullen und Kisten zur Ruhe gebettet gewesen, aber jetzt hat er seine gesammelten Alterskräfte aufgeboten, ist ins Technische Museum in Wien zu den Originalschriften gefahren, und hat eine wundersame Erzählung geschrieben. Diese berichtet in der Verkleidung des Erfinders der Schiffsschraube letztlich davon, wie es einem in Österreich ergeht, wenn man seine privaten Erfindungen dem öffentlichen Geist, dem Kaiser, den Volksvertretern und der Beamtenschaft aussetzt.

Klaus Rohrmoser, Flüstern

h.schoenauer - 30.05.2022

klaus rohrmoser, flüsternVon einer Erzählung erwartet man sich eine doppelte Berührung. Einmal soll der Stoff eine unerwartete Nuance liefern wie eine Novelle, und zum anderen soll die Erzählung ein Stück Inszenierung sein. Eine Erzählung wäre damit eine verbalisierte Aufführung für einen einzigen Leser, der eingeladen ist, mit dem Text in der Hand den Abend zu bestreiten.

Klaus Rohrmoser greift auf seine universelle Theatererfahrung zurück, wenn er von der denkbar schärfsten Kante zwischen Leben und Tod erzählt. Die beiden Erzähl-Pole sind Täter und Opfer, Mann und Frau, Jüdin und NS-Scherge.

Martin Maier, Oder so

h.schoenauer - 23.05.2022

martin maier, oder soWahrscheinlich die diskreteste Relativierungsformel der deutschen Sprache heißt „oder so“. Wird dieses magische Zeichen für Mehrdeutigkeit einer Behauptung hintangestellt, so schwächt sie einerseits das Behauptete ab, indem etwas gar nicht so klar sein möchte, andererseits bekommen die verwendeten Begriffe Konkurrenz, es kann etwas „gefährlich sein oder so“, der verwendete Begriff könnte durchaus ersetzt werden.

Martin Maier überschreibt seine knapp fünfzig Texte mit diesem „oder so“ und lässt dabei das Genre offen. Manchmal glaubt man eine Parabel zu erkennen, wie sie in der Literaturgeschichte Franz Kafka mit seinem „Gibs auf“ vorgelegt hat, ältere Leser werden an Bert Brecht und seine „Keunergeschichten“ erinnert sein, wenn sich nach einer rätselhaften Problemstellung eine Art didaktischer Ausweg anbietet. Manches ist einfach eingedampfte Performance eines verschwundenen Alltags, und Anhänger des Bildes von der Doppelhelix in biologischen Zellen schwärmen von der Verschränkung, mit der Konnotation und Denotation sich in den Armen liegen.

Helmuth Schönauer, Antriebsloser Frachter vor Norwegen

andreas.markt-huter - 18.04.2022

helmuth schönauer, antriebsloser frachter vor norwegen„In der Erinnerung ist etwas fixiert / indem eine gültige Fassung abgespeichert ist im Hirn / du denkst nicht mehr daran / dass es eine Alternative gegeben hätte damals / sondern alles ist unverrückbar gültig / wie ein Flugschreiber einer abgestürzten Maschine / der Flug mag zwar ungünstig ausgegangen sein / die Daten freilich sind fix“ (S. 16)

Erinnerungen werden trüb und verschwimmen im Laufe der Zeit. Nur die festgehaltenen Wahrnehmungen fixieren sich und werden zur vergangenen Realität. Lyrisch poetische Erinnerungen und Betrachtungen fixierter Ereignisse befreien den eingefrorenen Blick und eröffnen einen Neuen.

Hannes Hofinger, Nasca-Healing

h.schoenauer - 11.03.2022

hannes hofinger, nasca-healingDer Tiroler Menschenschlag setzt sich generell aus jenen Elementen zusammen, die in touristischen Saison-Prospekten geoffenbart werden. Darin werden Begriffe hochgehalten wie: Schmalz, Almvieh, Brunft, Hormone, Schlitzohr, hinterfotzig, überirdisch oder bodenständig. – Ein Tiroler Roman muss das alles berücksichtigen, was ihn zum schwierigsten Genre der Literatur macht.

Hannes Hofinger nennt sein Projekt des totalen Tirolromans „Nasca-Healing“. Dabei wird gekonnt eine Erzählstaffelei aufgestellt, die Unwahrscheinliches, Reales, Unwirkliches und Geträumtes in Gestalt eines Multi-Hybrids zum Ausmalen bringt. Die Genres Krimi, Schnulze, Romanze, Heimat- und Heiler-Roman sind dabei unauffällig ineinandergesteckt, sodass man bei jedem Umblättern irritiert ist, welche Dramaturgie nun schon wieder am Werk ist.

Ronald Weinberger, Und sie lügen doch

h.schoenauer - 07.03.2022

ronald weinberger, und sie lügen dochWenn es um die Wahrheit geht, können Handbücher durchaus dünn ausfallen. Im Gegenteil, je umfangreicher die Absätze bei der Darstellung einer vermeintlichen Wahrheit ausfallen, umso verdächtiger erscheinen sie jemandem, der vielleicht Ludwig Wittgensteins Tractat vor Augen hat und liest: „Die Welt ist alles, was der Fall ist.“

Ronald Weinberger geht mit seinem „Sternen-Tractatus“ ähnlich kurz angebunden vor. „Astrologie erfüllt nicht die Normen, die an eine „Wissenschaft gestellt werden“ (5 ). Und als ehemaliger professioneller und noch dazu auf (vor allem „sterbende“) Sterne spezialisiert gewesener Astronom fügt er hinzu: „Mit Schindluder meine ich Horoskope. Allgemeiner ausgedrückt: die Astrologie.“

Roman Banzer u.a. (Hg.), Literatur sichten

h.schoenauer - 28.01.2022

literatur sichten - anthologieLiteraturzyniker ätzen zwischendurch: Wenn irgendwo nichts los ist, macht man eine Anthologie. Eine Anthologie suggeriert immer, dass sie notwendig ist, indem sie viele Themen oder Autoren aneinanderreiht, damit der Leser nicht das Fehlen eines Zentralthemas merkt.

Das Projekt „Literatur sichten“ ist mittlerweile so etwas wie Hausbrauch in Südtirol geworden, indem nämlich das finanziell wohlbestallte Literaturhaus Liechtenstein immer wieder ein Auge auf das benachbarte Südtirol wirft und mit Veranstaltungen, Symposien und Publikationen ab und zu einen Weckruf an die verschnarchten Südtiroler sendet.

Helmuth Schönauer, Outlet

andreas.markt-huter - 26.11.2021

helmuth schönauer, outlet„»Wenn du keine Shortstory zusammenbringst, stecken wir dich ins Altersheim!« Die Kinder sind gnadenlos, zumal sie gut ausgebildet sind. Sie haben Entertainment, Psychologie, Theologie und Politikwissenschaft studiert, lauter Fächer, die den Vater in die Verwahrung bringen können, wenn er nicht mehr richtig drauf ist auf seiner blassen Lebensspur.“ (S. 7)

Der Ich-Erzähler ist pensionierte Bibliothekar und von da her schon immer auf Du und Du mit Geschichten. Aber jetzt gerät er unter finalem Lebensdruck, muss er doch jeden Monat mit einer Kurzgeschichte unter Beweis stellen, dass er noch nicht die nötige Demenz für das Altersheim erreicht hat.

Eva Maria Gintsberg, Die Reise

h.schoenauer - 03.11.2021

eva maria gintsberg, die reiseAuf der wahrlich großen Lebensreise verlieren die Reisenden allmählich das Ziel, am Schluss wissen sie gar nicht mehr, dass sie auf Reisen sind.

Eva Maria Gintsberg stellt in ihrer Erzählung um einen jähen Aufbruch ein paar Protagonisten am Bahnsteig zusammen und lässt sie im Morgengrauen losfahren. Die Ich-Erzählerin, die das Reisen nicht gewöhnt ist, packt eines Tages einen Koffer und begibt sich in der Früh zum Bahnhof, sie sticht aus der Menge der Wartenden hervor, vielleicht, weil sie ein besonderes Ziel hat. Sie will nämlich in die Vergangenheit ihres Vaters reisen, der während des Krieges eine Affäre gehabt hat. Nach seinem Tod sind nur ein paar rätselhafte Buchstaben übriggeblieben, die darauf hindeuten, dass es irgendwo eine Geliebte mit dieser Signatur gibt.