patricia brooks, bukarest bistroFür eine Reise durch die Geographie braucht es ähnliche Stützpunkte wie für eine Reise durch das weite Land der Poesie. Einmal sind es Karawansereien, Biwak-Boxen oder Bistros, die das reisende „Wir“ versorgen, dann sind es wieder Wolkenballen, Sträucher und Licht, aus denen sich die Gedichte speisen.

Patricia Brooks setzt für ihre Reise das „Bukarest Bistro“ in Szene und in den Titel. Darunter finden sechzig Gedichte Unterschlupf und berichten von einer imaginierten Welt auf mehreren Ebenen. Einmal ist mit dem Bukarest Bistro eine Location benannt, wie wir sie überall auf der Welt vorfinden, wenn jemand der rumänischen Hauptstadt zuliebe ein Café aufgemacht hat. Andererseits ist ein märchenhaft fernes Land damit verknüpft, das zur Anreise animiert, und drittens liefert der Begriff eine erste Befriedigung jener Sehnsucht, wegen der wir aufgebrochen sind.

norbert gstrein, vier tage, drei nächteEs geht nichts über die Ironie, die sich über akademische Scheindiskussionen, pandemische Langzeitfolgen, Reproduktionsgelüste von Lebensmüden und Sollbruchstellen von ehemaligen Traumberufen legt.

Norbert Gstrein zwingt die Leserschaft noch vor der ersten Seite, den eigenen Standpunkt zu formulieren, sonst wird dieser alle paar Seiten ausgehebelt und in Frage gestellt. Am tiefsten wirkt sein Roman „Vier Tage, drei Nächte“, wenn man ihn mit jener eleganten Wegwerfbewegung liest, mit der ihn der Autor sinnlich und klug geschrieben hat.

peter giacomuzzi, briefe an mimiDas Wohnzimmer der Literatur ist die Kiste, da fühlt sie sich wohl und beschützt und wartet mit dem Kistenbesitzer tapfer auf das Ende der Welt. Peter Giacomuzzi ist von Kindheit an von dieser Literatur in der Kiste inspiriert. Bei ihm hat diese Verzauberung die Ausmaße einer Schuhschachtel und steht im Regal seiner Tante, die ihn durchs Studium füttert. In der Schachtel sind Briefe eines gewissen Toni, der als Bild neben dem Fernseher steht.

Später ist die Tante gestorben und der Erzähler erwachsen geworden. Mit größter Ehrfurcht sichtet er die Briefe und beschließt nach Jahrzehnten, sie im gefühlten Einklang mit der Tante diskret zu edieren.

thomas arzt, die gegenstimmeLesen hat im gesellschaftlichen Diskurs einen ähnlich positiv besetzten Stellenwert wie Spazierengehen. Dennoch muss dies ständig beworben werden, weil es offensichtlich nicht selbstverständlich ist.

Auf den öffentlichen Sendern wird daher bei passender Witterung darauf hingewiesen, dass es am Nachmittag Zeit für einen Spaziergang ist, und die kulturellen Einrichtungen einer Kommune schwärmen mindestens einmal im Jahr davon, dass es jetzt Zeit zum Lesen wäre.

thomas antonic, united states of absurdiaDer Volksmund formuliert bei Größenordnungen relativ klar, sofern sich Größe überhaupt vorstellen lässt. Wenn etwas abnormal groß ist, sodass es sich kaum noch erzählen lässt, spielt es in Amerika. Und alles, was darüber hinausgeht, spielt in Absurdia. Dabei ist die Grenze zwischen Amerika und Absurdia eine weiche, obwohl sie ähnlich hart gedacht ist wie jene zwischen Amerika und Mexiko.

Thomas Antonic beginnt sein Epos mit einem perfekten Eingangsbild: Auf einem Western-Heft, das sich „Horse Tales“ nennt, wird eine Phantasie-Ausgabe aktuell dem 15. Jan. – 15. Feb. 2022 zugeordnet.

jürgen becker, gedichteIn Glücksstunden kann das Lesen zu einer Philosophie ausarten, worin bekanntlich die Gedanken umso klarer werden, je disziplinierter sie eingefangen sind. Nicht das hemmungslose Ausschweifen bringt die freien Gedanken in den Kopf, sondern das disziplinierte Heranführen desselben an jenen Horizont, an dem eine andere Sprache, Semantik oder Logik beginnt.

Für sogenannte „reife Leser“ spielen mit zunehmendem Alter Leserituale eine Rolle. Sie geben den flatternden Augen nicht nur Stabilität, Zeilen zu halten und abzutasten, fixe Gewohnheiten ermöglichen es erst, täglich eine Art unerforschtes Gelände zu erkunden.

andreas niedermann, schreibenDie echtesten Geschichten sind immer jene, wo jemand das Leben wegwirft, um zu schreiben, und es dadurch erst recht findet.

Andreas Niedermanns Roman vom „Schreiben“ ist letztlich die Geschichte eines permanenten Ein- und Aussteigers im Literaturbetrieb, am ehesten mit einem Schaffner zu vergleichen, der seinen eigenen Zug verpasst. Aber am Schluss erweist sich das Ziel als persönlicher Kopfbahnhof, der schon für die nächste Ausfahrt bereitsteht, kaum dass man in ihn eingefahren ist.

jan david zimmermann, den schatten im rückenEine Neuigkeit, bei deren Lektüre es einem wie Schuppen von den Augen fällt, ist der ideale Stoff für eine Novelle. Dieses Genre erweist sich meist als hartnäckiger als die Gegenwart und lässt den Schluss zu, dass etwas erst dann über den Alltag hinaus von Bedeutung ist, wenn es in einer Novelle Platz genommen hat.

Jan David Zimmermann nennt seine Novelle bedrohlich „Den Schatten im Rücken“. Dort wo den Helden oft eine Waffe an den Rücken gesetzt wird, ist es hier der pure Schatten, der auf den Helden zusteuert. Gleich zu Beginn wird der zitierte Plot vorgestellt: Der „Blaubart-Mythos“ ist zu einer gesellschaftskritischen Studie ausgebaut.

angelika stallhofer, stille kometenLyrik steckt meist schon auf den ersten Blick ein Territorium ab, das mit eigentümlichen Fügungen beschrieben wird, wie man etwa Stadtviertel mit Graffiti markiert. Die lyrischen Signale zeigen den Eingeweihten sowohl Tageslosung als auch Zukunftsprogramm, während Außenstehende die Wort-Zeichen wie Piktogramme lesen, denen keine unmittelbare Handlung folgt.

Angelika Stallhofer nennt ihre Gedichte-Sammlung „stille Kometen“, sie weitet ihr Wortrevier aus, indem sie ins Universum blickt, aus dem heraus vielleicht lautlos Kometen einschlagen. Von dieser Konstellation stiller Kometen ausgehend erhält auch die Wortkette mit den fünf Kapitelüberschriften eine erste Deutungsmöglichkeit: Brennen, Wasserstellen, Surren, Schlingen, Schwebebahn. Die Begriffe erzählen eine Geschichte, wie es Objekte in einer Galerie tun, wenn sie hintereinander abgegangen werden und sich bei den Flanierenden zu einem individuellen Ereignis verdichten.

friedrich hahn, die späte frauWie an einer Schleuse treffen Autor und Leser jäh aufeinander und müssen ihre Erfahrungslevel aufeinander abstimmen, damit der Text passieren kann. Eine elementare Bedeutung kommt dabei der Außenhaut des Textes zu, die diesen vor zu hartem Aufeinandertreffen mit dem Leser und seiner Realität schützt.

Friedrich Hahn gibt dieser „Außenhaut“ in seinen Romanen viel Platz. Zum einen installiert er raffinierte Rahmenhandlungen, in die er die Texte wie Bilder hineinmanövriert, zum anderen platziert er um den Kern des Romans allerhand Material herum, das diesen abfedert und vor Brüchen schützt wie Verpackungsmaterial. Diese Absätze, Notate, Erinnerungsskizzen und Aphorismen laufen beim Autor mehr oder weniger getaktet ein und sind fürs erste keinem Genre zuzuordnen.