Merle Rüdisser, Das Ideengefäß
Kluge Schriftsteller sollen beizeiten mit dem Schreiben aufhören, wenn sie schon lange leben müssen. - So in etwa könnte die Moral von diesem Sachbuch lauten, das sich mit dem Leben und Schreiben des ehemaligen DDR-Schriftstellers Hermann Kant beschäftigt.
Idealerweise stirbt man als Schriftsteller für die Germanistik als junger, vom Leben oder der Gesellschaft verbrauchter Autor, wie es uns N.C. Kaser vorgemacht hat, oder man lässt sich rechtzeitig von einem Auto überfahren, wie Rolf Dieter Brinkmann, damit man mit dem schönen Satz in die Literaturgeschichte eingehen kann.
Im Zeitalter durchgehender Terrorangst darf man nirgendwo auf der Welt einen Koffer abstellen, ohne dass dieser nicht sofort gesprengt würde.
Während normale Touristen Fotos oder wie im heurigen Jahr Brandwunden aus Griechenland mitbringen, ist es nahezu logisch, wenn ein Schriftsteller frische Texte mit nach Hause bringt.
Dieses Elementar-Buch ist von A bis Z aufregend. Das fängt schon damit an, dass ein Schriftsteller für Randlagen, wie Raoul Schrott es in seinen Romanen und Editionen ist, sich mit einem Dichter der Randlage Südtirol beschäftigt, aufregend ist in der Folge, wie man aus einem mehrbändigen Gesamtwerk einen handfesten griffigen Reader komponiert, und die Frage nach der Unsterblichkeit von Biographien und Werken ist schließlich eine der elementarsten der Literatur.
Nirgendwo lässt sich die Geschichte so genau beschreiben wie im Familienkreis. Selbst die großen weltbewegenden Vorgänge wirken manchmal wie ein Durchblättern eines Familienalbums.
Dein Bild ist gemalt / wir bewundern es jeden Tag! – Bereits diese Präambel, die wie ein Grabstein vor die Erzählung gemeißelt ist, lässt erahnen, mit welcher Inbrunst hier ein Vaterbild an die Wand der Erinnerung gehängt wird.
Erzählen heißt normalerweise, dass etwas in einem Zeitablauf von früher in einen Zeitablauf der Gegenwart gebracht wird. Wie bei einer Sanduhr gibt es ein Stoffdepot, das über die Engstelle in die Gegenwart rinnt.
"Die beste Lösung scheint mir nun die Auflösung, das absolute Aufgehen im Zustand der Löschung." (74)
Morgengesichter knapp am Leichenschauhaus vorbei, blasse, zerzauste, von Fehlfarben durchzogene Gesichter, zwischendrin Augenpaare, die es vielleicht schaffen könnten.