Gabriele Weingartner, Léon Saint Clairs Abschied von der Unendlichkeit
Ein Flaneur ist an jedem Augenblick am Höhepunkt! – Diese potente Zuschreibung für einen Helden, der sich quer durch Jahrhunderte und Kontinente bewegt, ermöglicht es ihm, die jeweilige Gegenwart in jener Stimmung aufzunehmen, in der wir einen gelungenen Spaziergang in den Kies setzen.
Gabriele Weingartner hat bereits im 2019 erschienenen Roman „Léon Saint Clairs zeitlose Unruhe“ den 1780 geborenen Helden zu den Napoleonischen Kriegen, ins Bangkok des frühen 20. Jahrhunderts und auf die psychoanalytische Couch der Zeitlosigkeit geschickt. Für die logische Vorstellung lebt der kleinwüchsige Sympathieträger mit seiner Freundin Konstanze in Berlin.
„Ihr glaubt, ich esse viel? Das ist noch gar nichts. Geht mal am 31. Dezember online, wenn ich die Liveübertragung meiner Henkersmahlzeit ins Netz stelle. Leute, die zum Tode verurteilt sind, kriegen doch alle eine Henkersmahlzeit. Wieso ich nicht? Ich halte es kein Jahr mehr aus in diesem Fettleib, aber ich weiß, wie ich dieses Jahr mit einem Knalleffekt beenden kann.“ (S. 9)
Die Nachrichtenwelt verschiebt sich ständig wie die Platten der Erdkruste. Stoßen die Textblöcke aneinander, sind oft Erschütterung und Vulkanismus angesagt. Das Individuum wird von dieser Lage mitgerissen und schützt sich, indem es sich mit einem Panzer aus Eigensinn und Eigenwelt umgibt. In dieser Erregungszone gedeihen Liebesgedichte meist vortrefflich, weil sie durch Abschirmung, Ironie und Abschweifung das Intime mit dem Zeitgeist in Verbindung bringen.
„Peggory Jones stolperte beinahe über eine Wurzel, als er durch das unterirdische Foyer des Geheimdienstes für streng geheime Angelegenheiten hastete. Seine Augen mussten sich erst an die Dunkelheit gewöhnen. Da halfen auch die paar schwebenden Fackeln nicht viel. »Ich bin Geheimagent und kein Maulwurf«, brummte Peggory und klopfte ein paar Erdkrümel von seinem Aktenkoffer.“ (S. 5)
Im Flanieren durch Gärten, Vororte oder Rentnerareale bleibt man oft stehen und geht einen Schritt zurück, um sich etwas genauer anzusehen, das beim ersten Vorbeigehen nur als Irritation aufgefallen ist. „Scheibenwischer mit Fransen“ wäre so eine Begebenheit, an der man zuerst vorbeigeht, ehe man sich umdreht und die Fügung unter das sprachliche Okular nimmt.
„Vincent war eine Maus mit Stiefeln an den Füßen, einem Hut auf dem Kopf und einem Haus auf dem Rücken. Er war schon weit gereist und hatte an vielen Orten gewohnt. Heute wollte er sich hier niederlassen, denn er wusste: Hier werde ich gebraucht.“
„Scheinbar endlose Kriege sowohl der heißen auch der kalten Art überall auf der Welt. Immer umfangreichere und gravierendere Umweltkatastrophen. Beispielloser globaler Reichtum und beispiellose Ungleichheit der Einkommen. Und, als Reaktion auf diese und weitere Symptome systemischen Zusammenbruchs immer repressivere und autoritärere Regimes, die sich einer extrem spalterischen Rhetorik bedienen. Das sind die Bedingungen, die das tägliche Leben von Milliarden von Menschen auf unserem Planeten charakterisieren.“ (S. 7)
„Sie lag im Gras, Arme und Beine von sich gestreckt. Es roch nach Erde. In ihrem Mund war ein widerlicher Geschmack, metallisch und irgendwie nach Oliven. Sie drehte den Kopf zur Seite und würgte. Allein beim Gedanken an Oliven wurde ihr schlecht. »Langsam dürfte wohl alles draußen sein«, sagte jemand. Wer war das? Sie wollte sich umdrehen, aber irgendein grelles Licht stach ihr in die Augen.“ (S. 7)
Was kann ein Roman, was das Internet nicht kann? - Er kann von einem analogen Standpunkt aus die digitale Welt „verorten“.
„In diesem Buch dreht sich alle um Knochen. Nicht um irgendwelche Knochen, sondern um ganz besondere: um die Reste urzeitlicher Tiere. Und es geht um Männer und Frauen, die diese Knochen entdeckten, ihnen regelrecht nachjagten, die staunten, forschten, zweifelten, verzagten, kämpften und die sich ihr Leben lang den Kopf über diese rätselhaften Funde zerbrachen.“ (S. 7)