Waldtraut Lewin, Der Wind trägt die Worte, Band 2
„Auf der Reise durch die Zeiten werden wir viele Ecken und Abzweigungen näher beleuchten, die in den ‚normalen Geschichtsbüchern‘ nur angedeutet oder gar ausgelassen werden. Das sollte den Reiz dieser Reise ausmachen.“ (5)
Auch im 2. Band von „Der Wind trägt die Worte“ eröffnet Waltraud Lewin ein Stück jüdischer Geschichte, abseits des historischen Mainstreams, wie er an Schulen und Universitäten gelehrt wird. Die Darstellung umfasst einen Zeitraum von knapp 350 Jahren, von der beginnenden Aufklärung bis hinein in die Gegenwart des israelisch-palästinensischen Konflikts.
Die jüdische Geschichte der Zeit der Aufklärung bis in die Gegenwart ist eine Geschichte der Höhen vor allem aber der unglaublichen Tiefen und Abgründe jüdischen Lebens in einer meist feindlich gesinnten europäischen Welt. Gleich am Beginn stehen die Massaker ukrainischer Kosaken an der jüdischen Bevölkerung zunächst in der südwestlichen Ukraine, dann in Weißrussland und schließlich in Litauen. In eine wahren Blutrausch entlädt sich der Hass der Reiter und Bauern gegen die polnische Fremdherrschaft und richtet gegen die schwächsten Mitglieder der Gesellschaft: die Juden. Die Zahl der Toten wird auf 100.000 geschätzt.
Diese Zeit des Schreckens ist aber auch die Geburtsstunde des „Schtetl“, des jüdischen Zusammenschlusses in einer Stadt, wo strenge Kleidungsregeln herrschen, die Beschäftigung mit der Thora im Mittelpunkt des Alltagslebens steht, jiddisch gesprochen wird und die Kletzmermusik für Unterhaltung sorgt. Untergegangen ist die Welt des „Schetl“ erst im 2. Weltkrieg mit dem Einmarsch der Nazi-Deutschen in Polen.
Dazwischen bewegt sich das jüdische Leben europaweit in einem Spannungsfeld zwischen Hoffnung und Enttäuschung, von Aufklärung und Toleranz, von Erfolgsgeschichten, wie jene der Rothschilds und zunehmendem Antisemitismus, wie er bereits im Fall Dreyfus prominent zum Ausdruck kommt. Am Ende liegt im ausgehenden 19. Jahrhundert der Zionismus mit dem Beginn der Suche nach einer eigenen Heimat für das Judentum, der schließlich in der Gründung des Staates Israel mündet. Dazwischen liegt eines der dunkelsten Kapitel in der Geschichte des Judentums und der Geschichte der Menschheit, der Völkermord an den Juden durch die Nationalsozialisten während des 2. Weltkriegs.
Es ist nur schwer in Worte zu fassen, was in den nächsten Jahren geschieht. Die Ereignisse sind von unvorstellbarer Grausamkeit. Und immer wieder erheben Soziologen, Kulturwissenschaftler, Philosophen und Psychologen die Frage: Wie ist das erklärbar? Was ging in den Tätern vor? (341)
Auch im zweiten Band der Geschichte und Geschichten der Juden werden drei Erzählweisen geschickt miteinander zu einem historischen Zeitbild miteinander verbunden, das sowohl den Geist als auch das Herz zu erreichen und berühren versteht. Neben der Darstellung des historischen Verlaufs der jüdischen Geschichte, geben historische Berichte von Zeitzeugen sowie erfundenen Geschichten, die sich mit realen Personen und Ereignissen auseinandersetzen, die es wirklich gegeben hat.
Diese klar gekennzeichnete Vermischung verschiedener Erzählebenen macht einen nicht geringen Reiz des beeindruckenden Werks über die Geschichte der Juden aus verschiedenen Blickwinkeln aus. Gerade jungen Leserinnen und Lesern eröffnet das Buch einen überzeugenden und empfehlenswerten Einstieg in die jüdische Geschichte, in dem nicht nur die üblichen Schattenseiten sondern auch die Lichtblicke jüdischen Lebens in Europa zur Sprache kommen.
Waldtraut Lewin, Der Wind trägt die Worte - Geschichte und Geschichten der Juden. Zweites Buch: Von der Neuzeit bis in die Gegenwart, ab 12 Jahren
Band 2
München: Cbj-Verlag 2013, 720 Seiten, 25,70 €, ISBN 978-3-570-13483-2
Weiterführende Links:
Cbj-Verlag: Waldtraut Lewin, Der Wind trägt die Worte (Bd. 2)
Wikipedia: Waldtraut Lewin
Andreas Markt-Huter, 02-07-2014