Anna Xiulan Zeeck, Wie wilde Gräser
„Das 13-jährige Mädchen Tongli stand an der Tür ihres Hauses und schaute dem mächtigen Nachtvogel nach. Sie war unruhig. Es war fünf Uhr morgens, Zeit für sie, sich auf den Weg zur Schule zu machen. Doch in ihrer Bergwelt herrschte noch immer Nacht.“ (9)
Tongli lebt bei ihrer alten Großmutter auf dem Land. Ihre Eltern müssen schon seit Jahren in Peking arbeiten. Als der Großvater des Nachbarjungen Lin Kai stirbt, kommt dieser ins Internat auf dem Schulgelände und Tongli muss zum ersten Mal alleine in der Dunkelheit alleine den weiten Weg zur Schule gehen. Die tiefe Freundschaft der beiden Jugendlichen aber bleibt.
In Tonglis Schulort kommt es zu einem Einbruch in Geschäft, bei dem die jugendlichen Einbrecher von einer alten Frau ertappt werden. Bei dem daraus folgenden Handgemenge mit den Jugendlichen kommt die alte Frau zu Sturz und bleibt leblos am Boden liegen. Gleich am nächsten Morgen sucht die Polizei auch an Tonglis Schule nach den Tätern. Lin Kai, der seiner alten Freundin Tongli auf dem Schulweg entgegen gegangen war, will Tongli nicht bloßstellen und kann der Polizei nicht erklären, weshalb er zu spät zum Unterricht gekommen ist. Er wird zum Verhör auf die Polizeiwache gebracht.
Tongli erzählt ihrer Klassenlehrerin Frau Li, dass Lin Kai sie auf dem Schulweg abgeholt habe, und deshalb zu spät in die Schule gekommen sei. Frau Li fühlt sich für ihre Schüler verantwortlich und verspricht zu helfen.
„Eigentlich ist es meine Aufgabe mich um dich zu kümmern“, sagte die Lehrerin, „aber ich habe deine neue Lage übersehen. Umso mehr fühle ich mich mitschuldig an dem Missverständnis der Polizei und dem unglücklichen Geschehen heute Morgen.“ (29)
Nicht nur Tongli und Lin Kai leiden darunter, dass ihre Eltern weit weg in den großen Städten arbeiten müssen und keine Zeit für sie haben. Tonglis Freundin Tao Jia muss in der Familie ihres Onkels leben und zögert den Augenblick des Nachhausegehens immer hinaus, um den kalten, Blicken ihrer Verwandten so lange wie möglich zu entgehen.
„Alle Eltern lieben ihre Kinder und bestimmt vermissen sie dich.“ „Das stimmt nicht! Sonst hätten sie mich nicht der Familie meines Onkels ausgeliefert und mich jahrelang nicht besucht. Ich weiß kaum noch, wie sie aussehen.“ (40)
In der Zwischenzeit plagt Luo Jun das schlechte Gewissen, dass sein Freund Lin Kai von der Polizei verdächtig worden war. Dabei war er es gewesen, der mit dem 16-jährigen Bandenführer Großer Zhang und seinen beiden Kumpel, dem dürren Long und dem dicken kleinen Bao das Geschäft überfallen hatten. Luo Jun hat schon lange vor, aus der Zhangs Bande auszusteigen. Zhang warnt ihn nachdrücklich davor, sie bei der Polizei anzuzeigen.
„Wie wilde Gräser“ erzählt die Geschichten von Kindern in China, die von ihren Eltern auf dem Land zurückgelassen werden, um in der Stadt den Lebensunterhalt für die Familie zu verdienen. Die Kinder werden bei den Großeltern oder Verwandten untergebracht und müssen schon früh lernen, ihren harten Alltag selbständig zu bewältigen. Für die arme Landbevölkerung bietet nur eine gute Ausbildung die Chance, den tristen Lebensverhältnissen zu entkommen.
Überaus einfühlsam gelingt es Anna Xiulan Zeeck einen Ausschnitt eines chinesischen Alltags auf dem Lande zum Leben zu erwecken. Dabei stehen der harten und mitunter grausamen Lebensrealität die wunderbaren Momente tiefer Freundschaft, tiefen Mitgefühls und der großen Achtung vor dem Alter gegenüber. Die stark gezeichneten Charaktere der einzelnen Protagonisten lassen kulturelle Barrieren verschwimmen und bieten jugendlichen Leserinnen und Leser zahlreiche Identifikationsmöglichkeiten.
Ein überaus empfehlenswertes schönes und literarisches Buch, das ganz unpathetisch die dunklen Seiten des Alltags von Kindern und Jugendlichen in China ausleuchtet und dennoch eine helle Zuversicht ausstrahlt.
Anna Xiulan Zeeck, Wie wilde Gräser. Ab 11 Jahren
Oldenburg i. O.: Desina Verlag 2014, 190 Seiten, 14,30 €, ISBN 978-3-940307-27-9
Weiterführender Link:
Desina Verlag: Anna Xiulan Zeeck, Wie wilde Gräser
Andreas Markt-Huter, 29-05-2015