Michel de Montaignes Reise durch Tirol im Jahr 1580. Teil 1

"Nun kamen wir in ein langgezogenes Tal, durch das der Inn fließt, lateinisch Oenus, der sich bis Passau in die Donau ergießt. Auf Inn und Donau braucht man von Innsbruck bis Wien fünf, sechs Tage. Dieses Tal schien Herrn de Montaigne die wohlgefälligste Landschaft, die er je sah."

Im Jahr 1580 durchquerte der französische Adelige, Philosoph und Schriftsteller Michel de Montaigne die Grafschaft Tirol. Mehr als siebzehn Monate dauerte seine Reise, die ihn von Frankreich über Scharnitz, Innsbruck, den Brenner, Brixen, Bozen und die Salurner Klause nach Italien führte. Kurz vor seiner Abreise wurden die ersten beiden Bände seiner bis heute berühmten Essais veröffentlicht.

Auf seiner Reise hat er ein Tagebuch geführt und seine Eindrücke über Land und Leute festgehalten. Seine Aufzeichnungen bieten somit heutigen Leserinnen und Lesern authentische Einblicke in die politischen, kulturellen, religiösen und wirtschaftlichen Verhältnisse in Tirol im Jahr 1580 n. Chr. Sein Tagebuch einer Reise nach Italien über die Schweiz und Deutschland von 1580 bis 1581 ist von Montaigne selbst nie veröffentlicht und erst im Jahr 1770 auf Schloss Montaigne von Abbé de Prunis entdeckt worden.


Die Karte der mehr als 17 Monate dauernden Reise Montaignes von Frankreich nach Italien über die Schweiz und Deutschland. Auf seinem Weg über die Alpen nach Italien kam er auch nach Tirol.

Wer war nun dieser Montaigne über den Friedrich Nitzsche 1874 in seinen Unzeitgemäßen Betrachtungen schrieb:

Ich weiß nur noch einen Schriftsteller, den ich in Betreff der Ehrlichkeit Schopenhauer gleich, ja noch höher stelle: das ist Montaigne. Dass ein solcher Mensch geschrieben hat, dadurch ist wahrlich die Lust, auf dieser Erde zu leben, vermehrt worden. Mir wenigstens geht es seit dem Bekannt werden mit dieser freiesten und kräftigsten Seele so, dass ich sagen muss, was er von Plutarch sagt: kaum habe ich einen Blick auf ihn geworfen, so ist mir ein Bein oder ein Flügel gewachsen. Mit ihm würde ich es halten, wenn die Aufgabe gestellt wäre, es sich auf der Erde heimisch zu machen.
Homepage: Montaigne ein freier Mensch - Biographie

 

Michel Eyquem de Montaigne (1533 - 1592)

Michel Eyquem de Montaigne wird am 28. Februar 1533 auf Schloss Montaigne in der heutigen Dordogne geboren. Seine Mutter Antoinette war vielleicht jüdischer Herkunft und sein Vater, Pierre Eyquem, ein reicher Kaufmann und hoher Richter im Parlament von Bordeaux, dem obersten Gerichtshof der Aquitaine. Montaigne übernimmt als Mitglied des hohen Amtsadels in späterer Zeit das Richteramt, das ihm sein Vater vererbt.

Montaigne genießt, wie auch seine sieben Brüder und Schwerstern, eine außergewöhnliche Erziehung. Um ihn abzuhärten, wird er als Säugling einfachen Landleuten in einem nahe gelegenen Dorf übergeben. Vielleicht mit ein Grund dafür, dass er sein Leben lang den einfachen Menschen aus dem Volk ohne die damals im Adel üblichen gesellschaftlichen Vorbehalte gegenüber getreten ist.


Der Philosph, Schriftsteller und Politiker Michel de Montaigne gilt als der Begründer der Essayistik. Als Humanist, Skeptiker und Moralphilosoph beeinflusste er mit seiner vorurteilsfreien Menschenbetrachtung und seinem liberalen Denken weltweit zahlreiche Philosophen und Schriftsteller nach ihm, wie etwa Voltaire und Friedrich Nietzsche.

Später wird Montaigne von einem Privatlehrer unterrichtet, der sich ausschließlich in lateinischer Sprache mit ihm unterhält. Auch die Hausangestellten werden angehalten, soweit es ihnen möglich ist, ausschließlich Lateinisch mit den Kindern zu sprechen. Montaigne selbst wird später in den Essais erwähnen, dass er die Sprache der Römer besser beherrschte als seine eigene Muttersprache: Ohne Kunst, ohne Buch, ohne Grammatik und Regel, ohne Ruten und Tränen hatte ich ein so reines Latein gelernt, wie mein Lehrer es konnte.

Ebenso außergewöhnlich ist, dass er nicht mit christlichen Formeln und Sprüchen, sondern mit den Wertvorstellungen der großen antiken Denker großgezogen wird. Ganz Humanist, steht er der Religion Zeit seines Lebens mit einer gewissen Distanz gegenüber, was durch die Religionskämpfe seiner Zeit noch verstärkt wird.

Zwischen 1539 und 1546 besucht Montaigne das Collège de Guyenne in Bordeaux und studiert anschließend in Bordeaux und Toulouse Rechtswissenschaften. Als er sein Studium 1553 beendet, ist er 19 Jahre alt und übt in den folgenden Jahren verschiedene öffentliche Ämter in Périgueux und Bordeaux aus.

1565 heiratet er Francoise de la Chassagne, die Tochter eines Ratskollegen im Parlament von Bordeaux. Von den fünf Töchtern, die aus dieser Ehe hervorgehen, sterben vier bald nach ihrer Geburt. Nur eine Tochter, Leonore, erreicht das Erwachsenenalter. Montaigne und seine Frau geloben zum Dank dafür, der Mutter Gottes in Loreto ein Votivbild zu überbringen; dieses Versprechen wird er als Beweggrund für seine Reise nach Italien angeben.

Nach dem Tod seines Vaters 1568 wird Michel als ältester Sohn zum Seigneur de Montaigne ernannt und übernimmt das Eigentum des Schlosses sowie das Lehen Montaigne.


Das Schloss und die dazugehörigen Güter verschafften Montaigne den Freiraum, um sich ganz seinen schriftstellerischen Neigungen zu widmen. Montaigne besaß eine umfangreiche Bibliothek. In seinen Bibliotheksturm ließ sich Montaigne über fünfzig Lebensregeln, zumeist Klassikerzitate in die Deckenbalken einbrennen. Foto: Wikipedia - Henry SALOMÉ

Im Jahr 1570 verkauft Montaigne sein Parlamentsamt in Bordeaux, um sich ins Privatleben zurückzuziehen. Trotzdem gelingt es ihm nicht, den politischen und religiösen Unruhen dieser Bürgerkriegszeit zu entkommen, in die er als Diplomat, Soldat und Gefangener involviert wird und die in der sogenannten Bartholomäusnacht? ihren grausamen Höhepunkt erreichen. Entsetzt über die Bösartigkeit der Menschen schreibt er:

Ich lebe in einer Zeit, in der wir durch die Zuchtlosigkeit unserer Bürgerkriege an unglaublichen Beispielen die Fülle haben, und man findet in der alten Geschichte keine ungeheuerlicheren, als wir sie täglich vor Augen sehen. Aber das hat mich keineswegs dagegen abgestumpft. Ich hätte es kaum geglaubt, ehe ich es gesehen hatte, dass es so scheusälige Seelen geben könne, die um reiner Mordlust willen Mord begehen:
andere Menschen zerhacken und ihnen die Glieder abhauen; ihren Geist anspannen, um Unbekannte zu foltern und neue Todesarten zu erfinden, ohne Feindschaft, ohne Vorteil, ohne anderes Ziel, als sich am ergötzlichen Schauspiel der erbärmlichen Gebärden und Zuckungen, des kläglichen Ächzens und Wimmerns eines qualvoll mit dem Tode ringenden Menschen zu weiden. Denn dies ist der äußerste Grad, den die Grausamkeit erreichen kann.
Homepage: Montaigne ein freier Mensch - Biographie

Montaignes Kontakte erstrecken sich in die höchsten politischen Kreise seiner Zeit. Er wird von zwei Königen als Berater hinzugezogen. Der französische König Karl IX. ernennt ihn ebenso zum königlichen Kammerherrn, wie später dessen Nachfolger Heinrich III. Auch der große Gegenspieler auf Seiten der calvinistischen Partei, Heinrich von Navarra, der spätere französische König Heinrich IV., sucht in den 80-iger Jahren des 16. Jahrhunderts immer wieder den Kontakt zu Montaigne.

Zwischen 1572 und 1573 verfasst Montaigne das erste und zwischen 1577 und 1580 das zweite Buch seines Hauptwerks, seiner Essais. Nachdem er in Paris Heinrich III. seine Essais überreicht hat, macht er sich - begleitet u.a. von seinem Bruder Bertrand - auf seine große Italienreise, die mehr als 17 Monate dauern und ihn über die Schweiz, Deutschland und unter anderem auch über Tirol nach Italien führen wird.

Mehrere Motive dürften ihn zu dieser nicht unbeschwerlichen Reise bewogen haben. Als offiziellen Grund nannte Montaigne ein Gelübde, das er und seine Frau bei der Geburt ihrer Tochter Leonore gegeben hatten. Sollte sie überleben, versprach er  der Mutter Gottes in Loreto mit einem Votivbild und Gebeten zu danken. Für Montaigne bedeutete die Reise aber vor allem auch die Möglichkeit, den politischen Wirren in Frankreich aus dem Weg zu gehen und gleichzeitig seiner Lust zu reisen und seine Neugier auf fremde Länder und Kulturen zu befriedigen.


Montaigne war eine wichtige Persönlichkeit seiner Zeit und hatte engsten Kontakt zu den französischen Königen. Karl IX. (li.), Heinrich III. (Mitte) und Heinrich IV. griffen auf ihn immer wieder als Berater zurück. Seine Essais waren bereits zu seinen Lebzeiten überaus populär. Bilder: Wikipedia

Über die Bedeutung des Reisens für die Erziehung bemerkte Montaigne in seinen Essais:

Dieserwegen ist der Umgang mit Menschen von so außerordentlichem Nutzen! [für die Erziehung, Anm. A.M.-H.].  So wie das Besuchen fremder Länder; nicht nur nach der Sitte unserer Noblesse sich zu belehren (wie viele Schritte die Santa Rotonda im Umfang enthält oder wie fein die Leibwäsche der Signora Livia sei oder, wie andere, um auf genaueste zu wissen, wie viel ein Nerokopf, der in einer Ruine gefunden, breiter oder länger ist als eben derselbe auf einer ähnlichen Medaille), sondern um vorzüglich den Charakter dieser Nationen, ihre Sitten und Gesetze kennenzulernen, um unser Gehirn an dem ihrigen zu reiben und zu glätten!

Ich wollte, dass man damit anfinge, den Zögling von Kindesbeinen an herumzuführen: und zwar zuerst, um zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen, zu unseren benachbarten Nationen, bei denen die Sprache weit von der unseren abweicht und für welche, wenn man nicht beizeiten dazu tut, die Zunge die Biegsamkeit verliert.
Michel de Montaigne, Essais. S. 43

Noch während er sich in Italien aufhält, wird Montaigne vom Parlament in Bordeaux zum Bürgermeister der Stadt gewählt. In diesem Amt sieht er es als seine Hauptaufgabe, die Stadt aus den politischen und religiösen Auseinandersetzungen heraus zu halten. Nachdem er sich neuerlich ins Privatleben zurück zieht, schreibt er zwischen 1586 und 1587 das dritte Buch seiner Essais. Die Gesamtausgabe wird 1588 in Paris veröffentlicht. Am 13. September 1592 stirbt Montaigne im Alter von 59 Jahren auf seinem Schloss an den Folgen einer schweren Angina.

 

Montaignes Reise nach Italien über Tirol
 

Montaignes Aufzeichnung seiner Reise nach Italien war nicht für die Öffentlichkeit bestimmt und ist uns nur durch einen Zufall erhalten geblieben. Im Jahr 1770, also fast 200 Jahre nach Montaignes Tod, begibt sich Abbé Prunis auf Schloss Montaigne, um nach Quellen zur lokalen Geschichte des Perigord zu suchen. Dabei stößt Prunis auf eine alte Truhe, in der er das Reisetagebuch Montaignes entdeckt. 1774 wird das Manuskript unter dem Titel Tagebuch einer Reise nach Italien über die Schweiz und Deutschland von 1580 bis 1581 veröffentlicht (Orig.: Journal du voyage de Michel Montaigne en Italie, par la Suisse et l?Allemagne.)


Montaigne kam auf seiner Reise nach Italien über Scharnitz nach Tirol. Heute noch können die Mauerreste der Porta Claudia besichtigt werden, die aber erst Jahrzehnte nach Montaignes Reise, während des 30-jährigen Krieges, als Grenzfestung erbaut worden war.
Foto: Wehrmauer der Porta Claudia am Westhang, Slashme, Wikipedia

 

Das Reisetagebuch setzt sich aus zwei Teilen zusammen: Der erste Teil besteht aus den Aufzeichnungen eines nicht benannten Sekretärs, der Montaignes Bericht in Französisch niedergeschrieben hat. Der zweite Teil wird von Montaigne selbst geschrieben und ist zum einen Teil in französischer und zum anderen Teil in italienischer Sprache verfasst. 

Das autobiographische Dokument gibt authentische Einblicke in die politischen, sozialen, wirtschaftlichen und religiösen Verhältnisse dieser Zeit in den verschiedenen Regionen Frankreichs, der Schweiz, Deutschlands und Italiens, unter anderem auch in Tirol. Montaigne versucht sich auf seiner Reise ein selbständiges Bild über Land und Leute zu machen, was nicht immer glückt:

In Sterzing ließ Herr de Montaigne den Schulmeister zu sich bitten; er wollte sich mit ihm auf Latein unterhalten. Doch der Mann erwies sich als Blödian, von dem er keine interessanten Auskünfte über die Gegend erwarten konnte.
Michel de Montaigne, Tagebuch einer Reise nach Italien. Seite 90/91
Mit freundlicher Genehmigung des marixverlag, D - Wiesbaden

Viel Platz nehmen in seinen Aufzeichnungen die Besuche von Heilbädern und die oft minutiöse Schilderung seiner körperlichen Verfassung - vor allem seiner zahlreichen Nierenkoliken - ein. Im September 1580 startet Montaigne seine Italienreise in Beaumont-sur-Oise, nördlich von Paris, die ihn über die Schweizer Städte Neuchatel und Basel an den Bodensee nach Lindau und weiter nach Kempten, Augsburg, München und Mittenwald nach Tirol führt.

 

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Michel de Montaignes Aufenthalt in Tirol, Teil 1

 

Von Scharnitz nach Zirl

 

Am nächsten Morgen - Sonntag, den 23. Oktober - zogen wir dieselbe Straße zwischen den Bergen weiter, bis wir auf ein Gebäude mit großem Tor stießen, eine Festung, die den Weg versperrt. Sie bildet den Eingang zum Land Tirol, das dem Erzherzog von Österreich gehört.

Gegen Mittag kamen wir nach Seefeld, drei Meilen, einem hübsch gelegenen kleinen Ort, der seit jüngstem ein Kloster hat. Die Kirche ist sehr schön und durch ein Wunder berühmt. Anno 1384 mochte sich bei der Osterkommunion ein Schlossherr - man gibt dort genauen Bericht, wie der Frevler hieß und wie sich seine Bestrafung im einzelnen vollzog - nicht mit der gewöhnlichen Hostie begnügen und verlangte statt dessen die große des Priesters.

Kaum hatte er sie im Mund, öffnete sich unter ihm die Erde und verschlang ihn bis zum Hals; er klammerte sich haltsuchend am Altarstein fest, doch auch der wurde weich wie Wachs. Erst nachdem der Priester ihm die Hostie aus dem Mund gezogen hatte, war er gerettet. Das Loch, in dem der Sünder versank und über dem jetzt ein Eisengitter liegt, wird heute noch gezeigt, ebenso die Fingereindrücke, die der Mann am Altarstein hinterließ, und schließlich die Hostie selbst; sie hat eine rötliche Färbung wie von Blutstropfen.


Als interessierter Beobachter beschreibt Montaigne Kultur, Gebräuche und Erzählungen und gibt ein Bild des ausgehenden 16. Jahrhunderts in Tirol wieder.

Die Stätte, heißt es, sei immer noch für ein Mirakel gut. So lasen wir den lateinischen Bericht über einen Tiroler, dem kürzlich ein Stück Fleisch im Schlund stecken geblieben sei, das er drei Tage weder habe hinunterschlucken noch hinauswürgen können. Da habe er sich Gott empfohlen und in die Kirche begeben, wo er augenblicklich von seinem Übel befreit worden sei.
Michel de Montaigne, Tagebuch einer Reise nach Italien. Seite 83
Mit freundlicher Genehmigung des marixverlag, D - Wiesbaden

 

 

Weiterführende Links:

Vorleser.net: Montaigne, Essais
Marix-Verlag
Homepage: Montaigne - Ein freier Mensch

 

Andreas Markt-Huter, 26-07-2006

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