Michel de Montaignes Reise durch Tirol im Jahr 1580. Teil 2

"Nun kamen wir in ein langgezogenes Tal, durch das der Inn fließt, lateinisch Oenus, der sich bis Passau in die Donau ergießt. Auf Inn und Donau braucht man von Innsbruck bis Wien fünf, sechs Tage. Dieses Tal schien Herrn de Montaigne die wohlgefälligste Landschaft, die er je sah."

Im Jahr 1580 durchquerte der französische Adelige, Philosoph und Schriftsteller Michel de Montaigne die Grafschaft Tirol. Mehr als siebzehn Monate dauerte seine Reise, die ihn von Frankreich über Scharnitz, Innsbruck, den Brenner, Brixen, Bozen und die Salurner Klause nach Italien führte. Kurz vor seiner Abreise wurden die ersten beiden Bände seiner bis heute berühmten Essais veröffentlicht.

Auf seiner Reise hat er ein Tagebuch geführt und seine Eindrücke über Land und Leute festgehalten. Seine Aufzeichnungen bieten somit heutigen Leserinnen und Lesern authentische Einblicke in die politischen, kulturellen, religiösen und wirtschaftlichen Verhältnisse in Tirol im Jahr 1580 n. Chr. Sein Tagebuch einer Reise nach Italien über die Schweiz und Deutschland von 1580 bis 1581 ist von Montaigne selbst nie veröffentlicht und erst im Jahr 1770 auf Schloss Montaigne von Abbé de Prunis entdeckt worden.

 

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Michel de Montaignes Aufenthalt in Tirol: Teil 2

 

Ruine Fragenstein und Inntal

Der folgende Weg führte die Reisegesellschaft von Seefeld über Reith hinunter zum Inntal, vorbei an der Burg Fragenstein in der Marktgemeinde Zirl. Die Burg wurde im 12. Jahrhundert erbaut, um den Reise- und Handelsverkehr, vor allem für den Salzhandel über den Seefelder Sattel zu sichern.

Herzog Sigismund der Münzreiche und auch sein Nachfolger Kaiser Maximilian I. nutzten die Burg Fragenstein recht häufig als Stützpunkte für ihre Jagd in der Karwendelregion. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts geriet die Burg in die Auseinandersetzung des spanischen Erbfolgekrieges, dem sogenannten Bayrischen Rummel? und brannte 1703 vollkommen aus. Die beiden noch sichtbaren Türme der Ruine wurden im 20. Jahrhundert restauriert.

Wir setzten unsere Reise zunächst auf der gleichen Hochebene fort, wo wir weitere hübsche Dörfer sahen. Dann ging [83] es hinunter; vorbei an einer stolzen Burg, von der ein steiler, in den Stein eingeschlagener Pfad talwärts führt. Nach einer halben Stunde Abstieg erreichten wir einen hübschen, reizvoll gelegenen Marktflecken.

 


Die Ruine Fragenstein in Zirl hat eine bewegte Geschichte hinter sich. Gegründet wurde sie von den Grafen von Andechs vermutlich im 12. Jahrhundert. Unter Kaiser Maximilians I. diente die Burg als Ausgangspunkt für Jagden. Von der einst ausgedehnten Burganlage sind nur noch die beiden Türme erhalten.
Foto:Markt-Huter

 

Von unten betrachtet wirkte die Burg, wie, sie so auf dem schroffen Fels lag, geradezu unzugänglich. Der Weg, den wir benutzt hatten, ist für gewöhnliche Karren nicht breit genug, wie die meisten Gebirgswege dortzulande. Deshalb benutzen die Fuhrleute, die solche Strecken bezwingen müssen, grundsätzlich Karren, die einen Fuß schmaler sind als die üblichen.

Nun kamen wir in ein langgezogenes Tal, durch das der Inn fließt, lateinisch Oenus, der sich bei Passau in die Donau ergießt. Auf Inn und Donau braucht man von Innsbruck bis Wien fünf, sechs Tage. Dieses Tal scheint Herrn de Montaigne die wohlgefälligste Landschaft, die er je sah. Bald verengte es sich, weil die Berge von links und rechts dicht ans Ufer drängten; bald wichen die Felsen zurück, aber nur auf einer Seite ? nämlich unserer, der linken ? und machten kultiviertem Boden Platz, der bis in die nicht ganz so steilen Berge reichte; etwas weiter unten wiederholte sich dies rechts.

Dann kamen zwei- bis dreistufig terrassierte Hänge, die viele schöne Adelssitze und Kirchen schmücken. Und ringsum als Rahmen unendlich hohe Berge, die das Ganze einschließen, einmauern.
Michel de Montaigne, Tagebuch einer Reise nach Italien. Seite 83/84
Mit freundlicher Genehmigung des marixverlag, D - Wiesbaden

 

Ankunft in Innsbruck

Montaigne kommt auch an der Martinswand vorbei, von der er bereits die Sage von Kaiser Max an der Martinswand zu berichten weiß. In dieser Erzählung bezeichnet er Kaiser Maximilian I. als Vater Karls V., der in Wirklichkeit aber sein Enkel und nicht sein Sohn war. Karls Eltern waren der bereits 1506 verstorbene spanische König Philipp I. und Johanna von Kastillien.

 
martinswand
Die in Tirol sehr bekannte Sage von der Rettung Kaiser Maximimilians aus der Martinswand
wurde in der Malerei des 19. Jahrhunderts mehrfach aufgegriffen. Heuter erinnert noch die
Kaiser-Max-Grotte an das Ereignis.
Foto: Tibs-Bilderdatenbank: Anton Prock

 

Auf unserer Seite entdeckten wir in einer Felswand ein Kruzifix. Kaiser Maximilian, der Vater Karls V., hat sich dort oben während einer Jagd einmal so verstiegen, dass er nicht mehr herunter konnte; nur das Eingreifen himmlischer Boten, erzählt man, habe ihn vor dem Schlimmsten bewahrt.

Zum Dank ließ er jenes große Holzkreuz errichten. Es steht an einer zu Fuß kaum erreichbaren Stelle; die Leute, die es einst setzten, müssen sich abgeseilt haben. Die Geschichte findet sich auch auf einem Gemälde in der Augsburger Halle der Armbrustschützen.

Am Abend gelangten wir schließlich nach Innsbruck, lateinisch [84] Oenopontum, drei Meilen, der Hauptstadt der Grafschaft Tirol; hier residiert Ferdinand, Erzherzog von Österreich. Das schöne, kleine Innsbruck schmiegt sich anmutig in die Talsohle. Zahlreiche Brunnen und Bäche sorgen, dass man immer Wasser zur Verfügung hat - eine Bequemlichkeit, die wir in allen deutschen und schweizerischen Städten fanden, die wir besuchten.
Michel de Montaigne, Tagebuch einer Reise nach Italien. Seite 84/85
Mit freundlicher Genehmigung des marixverlag, D - Wiesbaden

 
Vom anderen Ufer des Inns ist die Stadt Innsbruck mit ihren vielen Türmen, der sie umgebenden Stadtmauer und dem dahinterliegenden Patscherkofel dargestellt. Albrecht Dürer, Ansicht von Innsbruck aus Norden, 1494.

Montaigne übernachtet in Innsbruck im Gasthaus zur Goldenen Rose unter den Lauben. Das Gasthaus lag direkt an der Straße, die über Wilten zum Brenner führte. In der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde das traditionsreiche Gasthaus geschlossen. Heute befindet sich im selben Gebäude die Swarovski Crystal Gallery.

Das Gasthaus wurde während Montaignes Besuch von Melchior Resenberger als Wirt geführt, dem es gelungen war, sein Haus zu einem Gasthof ersten Ranges umzugestalten. Der Gasthof genoss allgemein einen guten Ruf und war weithin bekannt, sodass in ihm zahlreiche hohe und berühmten Persönlichkeiten genächtigt haben.

Die Häuser sind fast samt und sonders terrassenförmig gebaut. Wir wohnten äußerst wohnlich im Gasthof Zur Rose?, wo man das Essen auf Zinntellern servierte. Zudem bekamen wir schon seit einigen Tagen in allen Gasthöfen, so auch diesem, Servietten nach französischer Art.

Manche Betten hatten Vorhänge; diese waren zwar - wie um die verspielte Natur der Einheimischen zu illustrieren - schön zugeschnitten und reich mit durchbrochenen Verzierungen versehen, aber leider derart kurz und schmal, dass wir sie zu dem Zweck, den sie bei uns erfüllen, nicht benutzen konnten. Der gleiche Vorrang des Kunstvollen übers Praktische bei den Baldachinen - winzig, drei Finger breit, aber zahllose Quasten - und bei den Bettlaken für Herrn de Montaigne: klein, aber vier Finger breiter Spitzensaum.

Wie in den meisten deutschen Städten werden auch in Innsbruck des Nachts die Stunden ausgerufen. Ferner pflegte man überall, wohin wir kamen, zwischen den Fleischgängen auch einmal Fisch zu servieren, niemals aber umgekehrt an Fastentagen zwischen den Fischgerichten Fleisch - wenigstens nicht, wo wir abstiegen.
Michel de Montaigne, Tagebuch einer Reise nach Italien. Seite 85
Mit freundlicher Genehmigung des marixverlag, D - Wiesbaden


Das Gasthaus Zur goldenen Rose, das es heute nicht mehr gibt, hat sich am Eingang zur Innsbrucker Altstadt befunden. Heute sind vom ehemaligen Gasthaus lediglich die Holzdecke, eine Ecktischgarnitur und das Schild Goldene Rose erhalten. Foto: Markt-Huter

 

Ein Ausflug nach Hall und nach Schloss Ambras

Eine Erkundungsreise führte Montaigne nach Hall, das noch im 14. Jahrhundert Innsbruck als Handelsplatz für den Handeslverkehr zwischen Deutschland und Italien übertrumpfte, vor allem weil der Inn bis Hall herauf schiffbar war, was für den Personen- und Warenverkehr große Vorteile bot.

Den wichtigsten Wirtschaftsfaktor der Stadt stellte aber der Salzabbau dar. Die ersten Hinweise auf die Nutzung der Salzlagerstätten in Hall lassen sich in einer Urkunde aus dem Jahr 1232 n.Chr finden. Im 16. Jahrhundert wurde das Salz vor allem nach Schwaben, Vorarlberg, in den Bodenseeraum, in die Schweiz und ins Elsass exportiert.

Einen weiteren großen Aufschwung erlebte die Stadt nach der Verlegung der Landesfürstlichen Münzstätte von der alten Landeshauptstadt Meran nach Hall durch Erzherzog Sigmund den Münzreichen. 1567 n.Chr. wurde die Münzstätte vom Ansitz Sporberegg in der Südostecke der Oberstadt in die Burg Hasegg verlegt, wo sie bis heute besichtigt werden kann.

1570 gründete Erzherzogin Magdalena von Österreich in Hall ein königliches Damenstift und zu dessen geistiger Betreuung 1571 das Jesuitenkolleg. 1561 hatte Kaiser Ferdinand I. die Jesuiten bereits nach Innsbruck geholt, um der katholischen Gegenreformation zum Sieg zu verhelfen. Das erste Gymnasium Tirols wurde 1562 n.Chr. gegründet und hatte seinen Sitz bis 1604 im damaligen Jesuitenkolleg, in der heutigen Universitätsstraße 4 in Innsbruck.

Am Montag machten wir einen kleinen Ausflug. Wir wechselten ans andere Ufer und zogen zwei Meilen durch die schöne Ebene des Inntals, dann überquerten wir den Fluss abermals und kamen nach Hall, dem Ziel unseres Abstechers. Hall ist wie Innsbruck eine kleine Stadt, etwa so groß wie Libourne.


Das Jesuitenkolleg in Hall wurde 1571 von Erzherzogin Magdalena für die geistliche Betreuung des Haller Damenstifts gegründet. Das Kloster wurde 1671-84 vollständig erneuert, auch die 1610 geweihte Kirche wurde im späteren 17 Jhd. barockisiert.  1773 kam es zur Aufhebung des Klosters.

Hierher bezieht ganz Deutschland sein Salz. Jeden Tag gewinnt man neunhundert Blöcke zu einem Taler das Stück. Sie messen etwa einen Scheffel - und sehen zufällig auch ungefähr [85] aus wie einer, denn die Hohlformen, mit denen man sie presst, haben diese konische Gestalt. Das Werk gehört dem Erzherzog, dem es gewiss einen hohen Gewinn bringt; doch auch die Betriebskosten sind gewaltig.

Noch nie sah ich so viel Brennholz auf einem Haufen, wie dort gestapelt war. Man braucht starkes Feuer; das Salz wird nämlich gewonnen, indem man Sole aus einem benachbarten Berg über zwei Meilen herleitet und dann in riesigen Pfannen von gut dreißig Schritt Umfang siedet, bis das Wasser verdampft und die begehrten weißen Körnchen zurückbleiben.

Die Stadt hat mehrere schöne Kirchen; besonders die der Jesuiten erfreut das Auge. Herr de Montaigne besuchte, wie schon in Innsbruck, auch die Ordensbrüder selbst; sie besitzen ein prächtig ausgestattetes Quartier mit allen denkbaren Bequemlichkeiten.
Michel de Montaigne, Tagebuch einer Reise nach Italien. Seite 85/86
Mit freundlicher Genehmigung des marixverlag, D - Wiesbaden

Mit Erzherzog Ferdinand II. erhielt Tirol für die Dauer von knapp 100 Jahren wieder eigenständige Landesherrn. Ferdinand II. regierte Tirol von 1564 ? 1595 und baute die Landeshauptstadt Innsbruck zu einer der führenden Kulturzentren Europas aus.

Für seine Frau Philippine Welser, die aus einer Augsburger Bürgersfamilie stammte, ließ Ferdinand eine verfallene Burg der Andechser zu einem Renaissance-Schloss umbauen. In Schloss Ambras ließ er später auch seine bereits weithin berühmte Kunstsammlung und seine Sammlung von Harnischen, Waffen und Raritäten unterbringen. Der größte Teil der Sammlung befindet sich heute im Kunsthistorischen Museum in Wien.

Für Montaigne besonders interessant dürfte wohl die berühmte Ambraser Bibliothek gewesen sein, in der sich so kostbare Bücher wie die Wenzelsbibel, das Sternberggraduale, das Tacuinium sanitatis und 200 weitere bedeutende Bände befunden haben.

Nach dem Mittagessen ging es noch einmal auf die rechte Seite des Inns; dort hat nämlich Erzherzog Ferdinand von Österreich ein schönes Schloss, wo er sich zumeist aufhält. Herr de Montaigne hätte ihn gern kurz begrüßt, also hatte er sich bereits in der Frühe hinbegeben, doch ein Graf hatte ihm und seinen Begleitern mitgeteilt, der Erzherzog sei durch eine Ratssitzung verhindert.


Die Ursprünge von Schloss Ambras gehen auf eine mittelalterliche Burg zurück, die im 12. Jahrhundert als Sitz der bayrischen Grafen von Andechs überregionale Bedeutung erhielt. Erzherzog Ferdinand II. ließ die Burg zu einem Renaissanceschloss umbauen, um es seiner Frau Philippine Welser zu schenken.

Am Nachmittag sprachen wir erneut vor. Uns war, als erblickten wir ihn im Garten, und schickten seine Diener zu ihm hin, dass sie ihm Namen und Begehr unserer Herren meldeten. Die Lakaien kamen jedoch mit der Botschaft zurück, der Erzherzog lasse sich entschuldigen; man möge morgen wiederkommen, da habe er mehr Zeit. Aber vielleicht erübrige sich eine persönliche Begegnung ja; einen Gunstbeweis könne er Herrn de Montaigne auch so geben: wenn er während seiner Italienreise Hilfe brauche, solle er sich nur an Graf Sowieso in Mailand wenden.

Diese Frostigkeit kränkte Herrn de Montaigne ein wenig; besonders ärgerte ihn, dass man ihm und den Seinen nicht einmal [86] gestattete, das Schloss zu besichtigen. Als er sich am selben Tag bei einem Hofbeamten darüber beschwerte, sagte ihm dieser, der Erzherzog habe geäußert, er schätze die Franzosen nicht besonders, zumal das Haus Frankreich mit dem seinen verfeindet sei.
Michel de Montaigne, Tagebuch einer Reise nach Italien. Seite 86/87
Mit freundlicher Genehmigung des marixverlag, D - Wiesbaden

 

 

 

 

 

 

Weiterführende Links:
Vorleser.net: Montaigne, Essais
Marix-Verlag
Homepage: Montaigne - Ein freier Mensch

 

Andreas Markt-Huter, 02-08-2006
aktualisiert: 16-07-2017

 

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