Michel de Montaignes Reise durch Tirol im Jahr 1580. Teil 4

"Nun kamen wir in ein langgezogenes Tal, durch das der Inn fließt, lateinisch Oenus, der sich bis Passau in die Donau ergießt. Auf Inn und Donau braucht man von Innsbruck bis Wien fünf, sechs Tage. Dieses Tal schien Herrn de Montaigne die wohlgefälligste Landschaft, die er je sah."

Im Jahr 1580 durchquerte der französische Adelige, Philosoph und Schriftsteller Michel de Montaigne die Grafschaft Tirol. Mehr als siebzehn Monate dauerte seine Reise, die ihn von Frankreich über Scharnitz, Innsbruck, den Brenner, Brixen, Bozen und die Salurner Klause nach Italien führte. Kurz vor seiner Abreise wurden die ersten beiden Bände seiner bis heute berühmten Essais veröffentlicht.

Auf seiner Reise hat er ein Tagebuch geführt und seine Eindrücke über Land und Leute festgehalten. Seine Aufzeichnungen bieten somit heutigen Leserinnen und Lesern authentische Einblicke in die politischen, kulturellen, religiösen und wirtschaftlichen Verhältnisse in Tirol im Jahr 1580 n. Chr. Sein Tagebuch einer Reise nach Italien über die Schweiz und Deutschland von 1580 bis 1581 ist von Montaigne selbst nie veröffentlicht und erst im Jahr 1770 auf Schloss Montaigne von Abbé de Prunis entdeckt worden.

 

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Michel de Montaignes Aufenthalt in Tirol: Teil 4

 

Rast in Sterzing

Der Weg von Innsbruck über den Brenner nach Italien führte über die Poststationen in Steinach am Brenner, Sterzing, Brixen, Kollmann, Bozen und Neumarkt nach Trient. Dort trennte sich die Reiseroute in eine Postlinie nach Venedig und in eine Postlinie die über Roveretto nach Mantua führte. Bis zum Jahr 1575 lagen alle Poststationen in den Händen der Familie Taxis, die den Postdienst jedoch nicht selbst, sondern von meist schlecht bezahlten Verwaltern ausführen ließen. Die Poststationen in Brixen und Kollmann wurden von neu eingesetzten Postmeistern geführt, nachdem sie Wilhelm von Taxis 1575 abgeben hatte müssen.

Die Stadt Sterzing erlebt ab dem 14. Jahrhundert durch den aufkommenden Silberbergbau in Pflersch, Ridnaun und am Schneeberg eine Zeit großen wirtschaftlichen Aufschwungs, in der zahlreiche prächtige Bauten entstehen. In der 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts endet mit dem Versiegen der Silberbergwerke auch die wirtschaftliche Blüte der Stadt. Der Niedergang des Bergbaus in dieser Zeit war nicht nur ein lokales, sondern ein internationales Phänomen. Zur gleichen Zeit kam es in Europa zu einer Wirtschaftskrise, deren Ursachen in der Inflation des europäischen Silberpreises und in der europäischen Kupferkrise zwischen 1570 und 1580 zu finden sind.

Nach zehn Stunden endlich erreichten wir Sterzing, sieben Meilen. Herr de Montaigne hatte den ganzen Tag noch nicht gegessen. Er sagte, für ihn bleibe derlei durchaus im Rahmen des Verkraftbaren, dies sei nicht seine erste Tagesreise ohne Unterbrechung gewesen. Die Pferde freilich lässt er immer - gleichgültig, ob Pausen vorgesehen sind oder nicht - morgens vor der Abreise tüchtig mit Hafer füttern.

Die kleine Stadt Sterzing gehört zur Grafschaft Tirol und ist recht hübsch; eine Viertelmeile oberhalb derselben liegt ein schönes neues Schloss. Zum Essen bekamen wir kreisrunde Brote gereicht, die aneinander hingen. Den Senf serviert man in ganz Deutschland breiig; er schmeckt wie unser weißer Senf. Essig gibt es nur weißen. In der Bergregion wächst gerade einmal genug Getreide, dass es für die Bewohner ausreicht, Wein hingegen gar nicht. Man trinkt aber guten Weißwein von außerhalb.

    
Sterzing erlebte im 15. Jahrhundert durch den aufblühenden Silberbergbau in der näheren Umgebung einen wirtschaftlichen Aufschwung, der mit dem Niedergang des Bergbau gegen Ende des 16. Jahrhunderts wieder zum Erliegen kam. 

Auf den Gebirgspässen kann man sich getrost sicher fühlen; es ziehen dort in hellen Scharen Händler, Fuhrleute und Karrenführer durch. Statt der grimmigen Kälte, vor der man uns gewarnt hatte, herrschte, als wir da waren, eine schier unerträgliche Hitze.

Die Frauen der Gegend tragen Tuchmützen, die sehr unseren toques ähneln, dazu die Haare geflochten und herabhängend, wie anderswo auch. In der Kirche sprach Herr de Montaigne ein hübsches junges Mädchen an und fragte sie, ob sie vielleicht Latein könne - er hatte sie für einen Studenten gehalten.

Die Bettvorhänge waren aus rotgefärbtem, grobem Leinen; [90] der Stoff hatte vier Finger breite Querstreifen, die zwischen glatt und durchbrochen wechselten. Die Zimmer und Speisesäle, die wir in Deutschland antrafen, besaßen sämtlich Tafelung, selbst die Räumlichkeiten mit niedriger Decke.

In der Nacht erlitt Herr de Montaigne eine zwei, drei Stunden dauernde Nierenkolik, die ihm, wie er am nächsten Morgen sagte, heftige Schmerzen bereitete. Beim Aufstehen kam ein Stein mittlerer Größe heraus, der sich leicht zerbrechen ließ. Außen war der Stein gelblich, das Innere spielte mehr ins Weißliche. Tags zuvor hatte Herr de Montaigne sich erkältet und fühlte sich elend.

Seit Plombières war er von keiner Kolik mehr geplagt worden. Die heutige befreite ihn zumindest von dem quälenden Verdacht, bei der damaligen Kolik habe er nicht allen Grieß ausgeschieden und der Rest klumpe sich in der Blase und klebe fest. Angesichts des ausgeschiedenen Steins jedoch erschien ihm die Vermutung vernünftiger, dass mit diesem auch die Rückstände den Körper verlassen hätten - falls denn je welche darin waren. Schon unterwegs hatte er sich über Nierenpein beklagt. Sie sei es auch gewesen, bekannte er nun, die ihn veranlasst habe, die Etappe zu verlängern, denn nirgendwo verspüre er solche Linderung wie im Sattel.

In Sterzing ließ Herr de Montaigne den Schulmeister zu sich bitten; er wollte sich mit ihm auf Latein unterhalten. Doch der Mann erwies sich als Blödian, von dem er keine interessanten Auskünfte über die Gegend erwarten konnte.
Michel de Montaigne, Tagebuch einer Reise nach Italien. Seite 90/91
Mit freundlicher Genehmigung des marixverlag, D - Wiesbaden 

 

Dem Eisack entlang nach Brixen

Die Forstwirtschaft spielte in Tirol durch seinen großen Waldanteil von jeher eine bedeutende wirtschaftliche Rolle. Während aus Südtirol ein großer Teil des Holzes exportiert werden konnte und damit der Holzhandel im Süden des Landes florierte, wurde in Nordtirol das ganze Holz für das Aufheizen der Salzpfannen und die zahlreichen Bergwerke benötigt.

Ganz anders zeigten sich die Verhältnisse hingegen im Bereich der Landwirtschaft. Tirol war von alters her ein nicht sehr fruchtbares Land und konnte im 16. Jahrhundert kaum ein Viertel des Getreidebedarfs selbst decken. In Tirol war man daher auf Getreideimporte aus Niederösterreich, Ungarn, Böhmen und aus dem italienischen Raum angewiesen. Eine Folge dieser Abhängigkeit waren zahlreiche Hungersnöte, die das Land heimsuchten. Im Jahr 1570 z.B. ermahnte Ferdinand II. die Tiroler , wegen einer neuerlichen Getreideknappheit größere Enthaltsamkeit und Einschränkungen zu zeigen.

Tags darauf - Mittwoch, den 26. Oktober - reisten wir nach dem Frühstück los, zuerst durch eine Ebene von der Breite einer Achtelmeile, immer den Fluß Eisack zur Rechten. Zwei Meilen weiter, und wir hatten sie durchquert. Die nahen Berge waren an vielen Stellen bewohnt und bewirtschaftet; oft erblicken wir ganze Siedlungen, bei denen wir uns fragten, wie man dort wohl hingelangt, denn wir konnten keine Zugänge ausmachen.


Im Eisacktal, südöstlich von Sterzing, liegt die mittelalterliche Burg Reifenstein, die um 1100 n. Chr. erbaut worden ist. Gegründet wurde die älteste Tiroler Burg von den Bischöfen von Brixen, später übernahmen sie die Grafen von Andechs und Tirol. Foto: Wikipedia - Mike.fabian

An der Strecke lagen außerdem vier bis fünf Schlösser. Später [91] überschritten wir den Eisack auf einer Holzbrücke und zogen entlang seinem anderen Ufer. Wir begegneten einigen Arbeitern, welche die Straße herrichteten, und dies erschien hier allein deshalb dringend geboten, weil sie voller Steine war, so wie viele Straßen im Périgord.

Nachdem wir ein gemauertes Tor passiert hatten, ging es wieder ans Steigen. Bald erreichten wir eine Hochebene, ungefähr eine Meile breit; eine zweite, ähnlich hohe, erspähten wir jenseits des Flusses; beide waren sie steinig und unfruchtbar. Dafür bestand der Raum zwischen dem Fuß der Berge und dem Fluss aus wunderschönen Wiesen.
Michel de Montaigne, Tagebuch einer Reise nach Italien. Seite 91/92
Mit freundlicher Genehmigung des marixverlag, D - Wiesbaden

 

Aufenthalt in Brixen 

Die im Jahr 901 n.Chr. gegründete Stadt Brixen gilt als älteste Stadt Tirols und war über Jahrhunderte hinweg einflussreicher Sitz von Fürstbischöfen. Schenkungen der Kaiser machten die Bischöfe von Brixen zu mächtigen Schützern der Kaiserstrasse. Ihr politischer Einfluss erstreckte sich seit Ende des 10. Jahrhunderts über das Inntal, das Eisacktal und das Pustertal. Brixen erlangte im Hochmittelalter als Hauptstadt des Landes im Gebirge eine große reichspolitische Bedeutung, von der Baudenkmäler und Kunstschätze heute noch zeugen.

Seit dem 13. Jahrhundert ging die weltliche Herrschaft von den Fürstbischöfen zunehmend an die Grafen von Andechs, Tirol und Görtz über. Den Bischöfen verblieb - bis zur endgültigen Säkularisierung der geistlichen Reichsfürstentümer im Jahr 1803 - nur mehr ein Streubesitz rund um Brixen.

Der Gasthof ?Goldene Adler? in Brixen gehört zu den ältesten namentlich erwähnten Gasthäusern der Stadt. Erste Aufzeichnungen über das Gasthaus reichen in das Jahr 1500 zurück. Der Goldene Adler zählte neben Montaigne auch Kaiser Maximilian I., Kaiser Karl V. und Cosimo von Medici zu seinen prominenten Gästen.

Nun hielten wir nicht mehr an, bis wir nach Brixen  kamen, vier Meilen, einer sehr schönen Stadt, durch die der Eisack fließt, über den eine Holzbrücke führt. Brixen ist Bistum. Wir besuchten zwei schöne Kirchen. Unser Quartier hieß Zum Adler?; ein guter Gasthof. Die Ebene ist hier nicht breit. Aber die Berge ringsum, besonders jene, die wir zur Linken sahen, haben so sanften Anstieg, dass sie sich vollständig bewirtschaften, gleichsam bis zu den Ohren kämmen und frisieren lassen. Die ganzen Berge sind voller Kirchtürme und Dörfer, manchmal sogar die Gegend um die Gipfel, und nahe der Stadt finden sich viele reizvoll gebaute Häuser in lieblicher Lage.


Brixen, der Hauptort im Eisacktal, wurde im Jahr 901 n. Chr.
gegründet und ist somit die älteste Stadt Gesamt-Tirols.

Herr de Montaigne sagte, sein Leben lang habe er skeptisch reagiert, wenn Leute einen fremden Landstrich, den sie besucht hatten, unwirtlich nannten; es bestehe doch immer die Gefahr, dass man nur das lobe, was man gewohnt sei und was den Gebräuchen des eigenen Heimatdörfchens entspreche. Daher habe er nie viel auf die negativen Berichte anderer Reisender gegeben. Nun aber war er regelrecht von ihrer Dummheit überzeugt; denn ihre Behauptungen erwiesen sich in einem Maße als haltlos, dass er sich bloß noch wunderte.

Was hatte er da nicht für Warnungen vernommen: schon die Überquerung der Alpen mache unendlich viel Beschwernis, besonders am Brennerpass; [92] dann aber seien auch noch die Landessitten merkwürdig, Pfade und Straßen unwegsam, die Quartiere ungepflegt und die klimatischen Verhältnisse unerträglich.

Um beim Wetter zu beginnen: er danke Gott, dass er ein derart mildes angetroffen habe, denn er liebe es eher zu warm als zu kalt; und auf der ganzen Reise hätten wir bisher lediglich drei kalte Tage gehabt und Regen nur ungefähr eine Stunde. Wenn er mit seiner erst achtjährigen Tochter spazieren gehen müsste, täte er dies ebenso gern auf diesem Passweg wie in einer Allee seines Gartens.

Und über die Gasthöfe bemerkte Herr de Montaigne, er erinnere sich keiner Gegend, wo sie so dicht gesät und so annehmlich waren wie hier; nirgends auch habe er so viele schöne Städte vorgefunden, in denen es zudem reichlich Esswaren und Wein gebe, und zwar preiswerter als andernorts.

Zum Drehen des Bratspießes verwendet man dort ein Räderwerk. Um eine große eiserne Rolle wird ganz straff eine Schnur gewickelt, deren Abspulen man dann künstlich verlangsamt, so dass sie dazu fast eine Stunde braucht; danach muss man sie wieder aufwinden. Andere Apparaturen, die dem gleichen Zweck dienen, nutzen hierfür, wie berichtet, den Luftzug im Kamin.

Eisen ist so reichlich vorhanden, dass nicht nur sämtliche Fenster mit den verschiedenartigsten Gittern versehen sind, sondern auch die Türen, ja sogar die Fensterläden Beschläge aus Eisenblech tragen. Nun erblickten wir wieder Weingärten; die letzten hatten wir vor Augsburg gesehen.


Das Gasthaus Goldener Adler zählte neben Michel de Montaigne auch Kaiser Maximilian I., Kaiser Karl V. und Cosimo von Medici zu seinen Gästen.

Die meisten Häuser haben Gewölbe, und zwar in allen Stockwerken. Zur Abdeckung sehr schmaler Neigungsflächen benutzt man Hohlpfannen; sogar bei den engen Kegeln der Kirchtürme kommt diese Kunst zur Anwendung, die man in Frankreich nicht recht beherrscht, die in Deutschland aber gang und gäbe ist. Die hiesigen Pfannen sind besonders klein, ihre Höhlungen [93] größer als üblich; mancherorts vergipst man in der aus ihnen gebildeten Bedachung die Fugen.
Michel de Montaigne, Tagebuch einer Reise nach Italien. Seite 92-94
Mit freundlicher Genehmigung des marixverlag, D - Wiesbaden

 

 

 

 

Weiterführende Links:
Vorleser.net: Montaigne, Essais
Marix-Verlag
Homepage: Montaigne - Ein freier Mensch

 

Andreas Markt-Huter, 16-08-2006

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