Joke van Leeuwen, Ich bin hier!
„Wolem war ein Städtchen mit schmalen Straßen. Die Menschen von Wolem sahen über ihrem Kopf nicht mehr als einen kleinen Streifen vom riesigen Himmel. Ein Gebäude dort ragte hoch über alle Häuser hinaus. Es war ein Gebäude mit dreißig Stockwerken. Niemand fand es schön, aber alle sagten, dass Wolem mit diesem Gebäude auf der Höhe der Zeit sei. Jona verstand nicht ganz, was das bedeutete. Dann musste die Zeit ja wohl hoch sein, dachte sie. (S. 9)
Jonas Mutter ist nach einer schweren Krankheit gestorben. Kurz zuvor hat sie Jonas Vater gebeten, sich um ihr Kind zu kümmern und wichtiger zu nehmen als seine Arbeit. Seit dieser Zeit besucht Jona ihren Vater nach der Schule immer in seinem Büro im zwanzigsten Stock eines riesigen Hochhauses.
Auf dem Weg in Papas Büro begegnen ihr die verschiedensten Leute, von denen sie manche einfach ignorieren und andere ihr kurze Fragen stellen. Nach Arbeitsschluss isst ihr Vater jeden Tag mit Jona im Gasthaus „Lecker“ das Tagesgericht. Viel gesprochen wird nicht und während sich Jonas Vater vor allem für Zahlen und Nachrichten über ein drohendes Hochwasser in der Stadt interessiert, lässt Jona ihre Gedanken spielen, schafft mit dem Püree auf dem Teller fantasievolle Bilder und sinniert über die vielfältigsten Dinge des Lebens.
Eines Tages, als ihr Vater wieder in seine Arbeit vertieft ist und sie die Toilette besucht, entdeckt sie am Ende des Flurs eine Tür mit einem merkwürdigen Schild. Sie öffnet die Tür und gelangt in ein Stiegenhaus. Voller Neugier steigt sie die Stufen bis ins 30. Stockwerk hinauf und gelangt auf ein Dach mit einer unglaublichen Aussicht. Dort kann sie endlich so laut rufen, wie sie will, ohne dass es jemand hört.
Das Dach wird immer mehr zu Jonas Rückzugsort, wo sie ihren Träumen nachgehen und mit ihrer Mama Zwiesprache halten kann. Als sie eines Tages vom Dach wieder zurück zu Papa ins Büro gehen will, kann sie diesen nirgendwo finden. Da die Lifte ausgefallen sind, macht sie sich zu Fuß auf den Weg nach unten, wobei sie feststellen muss, dass das Haus bis zum 2. Stock unter Wasser steht. Das Hochwasser ist gekommen und hat sie allein im Haus zurückgelassen.
Mit viel Einfühlungsvermögen erzählt Joke van Leeuwen wie ein kleines Mädchen mit den großen Herausforderungen des Lebens zurecht zu kommen versucht. Im Mittelpunkt stehen zwei Katastrophen: der frühe Tod der Mutter und eine Naturkatastrophe, mit der sich die junge Heldin auf melancholisch humorvolle Weise auseinandersetzt.
„Ich bin hier!“ erzählt eine sehr bewegende, tiefgründige und stimmungsvolle Geschichte über Liebe, Fantasie und die wichtigen kleinen Dinge im Leben, die dem Alltag erst so richtig ihren Sinn verleihen. Die melodische Sprache und die liebevoll gestalteten Illustrationen machen das Kinderbuch zu einem eindrucksvollen Leseerlebnis.
Joke van Leeuwen, Ich bin hier! Ill. v. Joke van Leeuwen, übersetzt von Hanni Ehlers [Orig. Titel: Ik ben hier!], ab 8 Jahren
Hildesheim: Gerstenberg Verlag 2024, 120 Seiten, 15,50 €, ISBN 978-3-8369-6256-8
Weiterführende Links:
Gerstenberg Verlag: Joke van Leeuwen, Ich bin hier!
Wikipedia: Joke van Leeuwen
Andreas Markt-Huter, 17-07-2024