„Die anderen Geister auf dem Hof gehen ihrer gewohnten Tätigkeit nach, ohne etwas zu bemerken, aber der Geist mit den glühend roten Augen schwebt zum Fenster, um einen Blick zu erhaschen. Allerdings passiert dann etwas, das der Geist nicht erwartet. Etwas, das er in all den Jahren, seit er den steinernen Innenhof von St. Ignatius heimsucht, noch nie gesehen hat.“ (S. 5)
Die zwölfjährige Rosie Oakes lebt mit ihrer Mutter Annaballe allein in einem alten Haus. Von ihrem Vater weiß sie nichts, weil ihre Mutter nie über ihn spricht. Ihre Mutter spricht generell nicht viel und scheint ständig geistig abwesend zu sein. Rosie leidet darunter, dass ihre Mutter keine Gefühle für sie zu haben scheint und keinen Anteil an ihrem Leben nimmt. Nur Rosies beste Freundin Keim gibt ihr Halt und Kraft, um mit diesem Zustand fertig zu werden.
Eines Tages macht Rosie eine verwirrende Entdeckung: sie hört eine merkwürdige Stimme vor ihrer Schlafzimmertür. Als sie der Sache auf den Grund gehen will, entdeckt sie eine geisterhafte Erscheinung. Während ihre Mutter Rosies Entdeckung ignoriert, zeigt sich Keim bereit, bei Rosie zu übernachten. Gleichzeitig macht sich Rosie über die Freundschaft zu Keim Sorgen, seit diese mit Bibi West gemeinsam an der Herbst-Talentshow teilnehmen will.
Zu Rosies Überraschung kann auch Keim die Geister, die sie im Haus umzingeln, wahrnehmen. Ebb, ein Geist in Gestalt eines dreizehnjährigen Jungen, beruhigt die beiden Mädchen, keine Angst vor den Geistern zu haben, da sie ihnen nicht gefährlich werden könnten. Er führt Rosie zu einer alten Kommode, unter der sich eine Bodendiele entfernen lässt, in dessen Hohlraum ein Buch versteckt ist: „Das große Handbuch der Hexenjagd“.
Im Handbuch, das Rosies Mutter vor ihrer Geburt versteckt hat, finden sich die Porträts und Zeichnungen von dreizehn Hexen und Hexern. Dabei fällt ihr die Beschreibung einer Hexe, die von ihrer Mutter als „Erinnerungsdiebin“ bezeichnet wurde, ganz besonders ins Auge. Auch wenn sie als die schwächster der dreizehn Hexen gilt, besitzt sie die Macht, die Erinnerungen von Menschen zu stehlen und horten. Dabei verliert die Person, die von der Erinnerungsdiebin verflucht worden ist, sämtliche Erinnerungen an die Vergangenheit und an alle Menschen, ihr nahe stehen. Sie vergisst selbst, wie man andere liebt, auch wenn sie scheinbar ihr normales Leben weiterführt.
Als sie zudem erfährt, dass sie einer langen Reihe von Hexenjägerinnen entstammt, wird Rosie klar, dass ihre Mutter, die letzte noch lebende Hexenjägerin, dem Anschlag der Erinnerungsdiebin zum Opfer gefallen sein muss. Doch Rosies Forschungen bleiben von der Erinnerungsdiebin nicht unentdeckt. Sie erscheint in Rosies Zimmer und spricht eine schreckliche Drohung aus.
„Beim nächsten Dunkelmond werde ich dich vernichten.“ (S. 64)
Ein Wettlauf mit der Zeit beginnt und Rosie bleiben nur noch vier Tage Zeit, um das Geheimnis ihrer Mutter zu lüften und sich der tödlichen Bedrohung zu stellen.
Jodi Lynn Andersons dunkle, spannende und überaus empfehlenswerte Geistergeschichte dringt tief in die familiären Verhältnisse ihrer außergewöhnlichen Heldin ein, die unter der Kälte, Gleichgültigkeit sowie fehlender Zuwendung und Liebe der Mutter handelt, aber auch Eifersucht und Freundschaft thematisiert. Die berührende und gruselige Geschichte zieht die jungen Leserinnen und Leser von Beginn an in ihren Bann und zeichnet sich durch eine dichte erzählerische Atmosphäre aus, die neugierig auf die Fortsetzung macht.
Jodi Lynn Anderson, Thirteen Witches - Die Erinnerungsdiebin. Aus d. Reihe: Thirteen Witches Bd. 1, übers. v. Kanut Kirches [Orig. Titel, Thirteen Witches, Book 1: The Memory Thief] ab 11 Jahren
Bindlach: Beltz & Gelberg Verlag 2025, 280 Seiten, 16,95 €, ISBN 978-3-407-75972-6
Weiterführende Links:
Beltz & Gelberg Verlag: Jodi Lynn Anderson, Thirteen Witches - Die Erinnerungsdiebin
Wikipedia: Jodi Lynn Anderson
Lektorat: Kanut Kirches
Andreas Markt-Huter, 09-09-2025