Tiroler Gegenwartsliteratur

Erika Kronabitter, Nora. X

h.schoenauer - 03.03.2014

Die Erziehung hängt an uns herunter wie das Fell an einem Bären. Darf man noch zu Lebzeiten an diesem Fell herumzupfen?

Erika Kronabitter beschreitet mit einsichtigen Bildern eine Führung durch die Seele einer gequälten Kindheit. Zu diesem Zweck setzt sie den Roman auf ein Doppelgleis, einmal wird in poetischen Standbildern das Verhalten von Menschen an gewissen unauffälligen Knackpunkten abgeknipst, zum anderen leisten sich zwei Figuren im Sinne Musils eine Analyse mit friedfertigem Ausgang.

Christoph W. Bauer, In einer Bar unter dem Meer

h.schoenauer - 26.02.2014

Was für eine verheißungsvolle Erzählkonstellation! In einer Bar unter dem Wasser sind die Figuren offensichtlich ausgesetzt dem relaxenden Gefühl bei Getränken und dem Druck schwerer Geschichten, die auf ihnen lasten wie auf einem U-Boot.

Christoph W. Bauer führt in 19 Erzählungen tatsächlich unscheinbare Gegebenheiten unter dem Druck lang angestauter Verhältnisse einem explosiven Ausbruch zu. Es sind fast immer flach atmende Leute, denen einmal im Leben etwas aus dem Ruder läuft und sie somit aus ihrer Gewöhnlichkeit wirft.

Elias Schneitter, Zirl.Innweg 8

andreas.markt-huter - 19.02.2014

Alles Neue beginnt mit einer Krankheit, weil Neues nur entstehen kann, wenn das Alte abgeworfen wird, und das Loswerden des Alten bezeichnet Egon Friedell als Krankheit.

In Elias Schneitters Erzählung „Zirl. Innweg 8“ kämpft ein erzählendes Ich ein Leben lang damit, die Kindheit im Lebensprogramm unterzubringen und als gelungen zu beschreiben.

Sigrid Neureiter, Kurschattenerbe

andreas.markt-huter - 17.02.2014

Seit im Südtiroler Grenzgebiet Bären zum Auffinden von wild abgelegten Leichen eingesetzt werden, erscheint alles, was in einem Südtiroler Krimi passiert, als höchst wahrscheinlich.

Sigrid Neureiters Krimi aus Südtirol spielt in der Kurstadt Meran und wirft sich gleich mitten in das Gewühle der Relax-Stadt. Ein aufgedonnerter Kongress über Oswald von Wolkenstein ist angesagt, Koryphäen aus den Branchen Musik und Wort tummeln sich auf den Promenaden und zwischen den Veranstaltungssälen herum, es wird viel zur Schau gegrüßt und hinterrücks getuschelt.

Markus Linder, Voradelberg

andreas.markt-huter - 14.02.2014

Wenn man eine sogenannte Heimat halb zu sich heranzoomt, breitet sich triefende Ergriffenheit aus, wenn man sie ganz zu sich heranlässt, führt sie in ihrer Skurrilität zu befreiendem Gelächter.

Markus Linder, Beute-Tiroler, Musiker, Schriftsteller und Entertainer, zoomt sich als mittlerweile Außenstehender mit Herz-Saft in seine Ur-Heimat zurück. „Voradelberg“ nennt sich seine Exkursion, denn die Vorarlberger adeln sich selbst, indem sie ihr Land schludrig aussprechen und zu Voradelberg machen.

Norbert Gstrein, Eine Ahnung vom Anfang

h.schoenauer - 10.02.2014

Bei den wirklich aufregenden Themen geht es meist um richtiges Argumentieren zu einer falschen Zeit.

Norbert Gstrein malt für seine Romane oft ein eigenes Ziffernblatt des Erzählens, worin er die Figuren Gedanken der Unzeit platzieren lässt. „Eine Ahnung vom Anfang“ deutet gleich zweifach in etwas Ungewisses, es handelt sich zum einen um eine Ahnung und keine Gewissheit, zum anderen beginnt zwar etwas, aber es ist noch lange nicht klar, was es genau sein wird.

Lilly Sauter, Mondfinsternis

h.schoenauer - 22.01.2014

Der hundertste Geburtstag von Dichterinnen und Dichter ist für zeitlose Leser immer ein willkommener Anlass, deren Werk in der aktuellen Verankerung zu überprüfen durch Nachlesen.

Lilly Sauters literarisches Werk ist geprägt von der Verschmelzung mit Malerei, Graphik und Skulptur, als Journalistin, Übersetzerin und Ausstellungsmanagerin hat sie permanent über die Kunst der 1950er und 1960er Jahre in Tirol berichtet.

Susanne Preglau, Ani

h.schoenauer - 20.01.2014

Bei besonderen Schicksalsschlägen gleicht sich auch die Sprache der Struktur eines solchen Lebens an und wird dadurch über die Zeiten hinweg unverwechselbar.

Susanne Preglau hat im Sinne einer qualitativen Sozialforschung anhand der Biographie der aus Bosnien emigrierten Ani versucht, den üblichen Zahlen und Massenbewegungen ein Gesicht zu geben. Ani fährt 1971 mit sechzehn Jahren allein von einem entlegenen bosnischen Dorf nach Innsbruck und „Solbad Hall“, das Geld für den Aufbruch in ein neues Leben hat sie sich geliehen, Ani kann kein Wort Deutsch und kennt von weitschichtigen Verwandten nur die Wörter Fröschl und Swarovsky, dort soll es Arbeit geben.

Ingrid Mascher, Flugblätter

h.schoenauer - 15.01.2014

Der Typenschein der „Flugblätter“ sagt es sehr genau: Lyrik kommt an gelungenen Tagen im Flug daher, Gedichte strömen durch die Zeit schwerelos wie die berüchtigten Blätter im Herbst, und eine politische Komponente darf im Zeitalter der Apps ebenfalls angenommen werden, Lyrik bringt zwischendurch auch Botschaften, die früher einmal im Zeitalter einer haptischen Öffentlichkeit über Flugblätter verbreitet worden ist.

Ingrid Mascher „berührt“ mit ihren Gedichten alle diese Komponenten, das lyrische Ich streift als Welt-Flüchtling in alle Windrichtungen davon, und wenn es einmal kurz zur Ruhe kommt, verliert es seine Haut und wird mehr als nackt von der Schutzlosigkeit überfallen.

Günther Loewit, Wie viel Medizin überlebt der Mensch

h.schoenauer - 13.01.2014

Die gewöhnlichste Lüge ist die, mit der man sich selbst belügt. Dieser lapidare Satz von Nietzsche lässt sich auch auf Systeme und Einrichtungen auslegen, Politik, Medizin und Bildung haben durchaus auch den Sack der Selbstlüge weit aufgemacht.

Der Haus-Arzt und Schriftsteller Günther Loewit betrachtet in seinem Essay den Moloch Medizin und erzählt daran ein Stück Gegenwart. Denn kaum in einem Bereich lassen sich Träume, Praktiken und Geldströme der Gesellschaft so deutlich beschreiben wie in dieser Medizin, die uns mit Wörtern wie Gesundheit, Glück, Sinn und Tod niemals aus den Krallen lässt.