Aktuelle Buchtipps

 

Wolfgang Matz, Gewalt des Gewordenen

h.schoenauer - 07.08.2005

Buch-CoverEinem gewaltigen Schreibvulkan kann man oft nur mit einem simplen Spickzettel begegnen. Adalbert Stifters Werk gleicht jenem Anton Bruckners und erklingt als eine scheinbar immer gleiche Symphonie, deren Abspiellupe sich jedoch stets zitterfrei durch die Rillen der Jahre tastet bis zum Finale aller großen Texte.

Wolfgang Matz ist für 2005 nicht nur Herausgeber der Stifterschen Erzählungen in der Gestalt der Erstdrucke, er ist einfach auch Fan und cooler Leser. Sein Spickzettel zum Gesamtwerk weist folgende zehn Schlüsselbegriffe aus:

Jagoda Marinic, Russische Bücher

h.schoenauer - 31.07.2005

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Oft sind in Büchern die gelesenen Vorstellungen größer als die Welten, die in ihnen dargestellt werden.

In Jagoda Marinics Erzählband kommt beispielsweise Hannah als Erzählerin in der Titelgeschichte nur ungenau mit der Größenvorstellung zurecht. Als sie im mittlerweile verkleinerten Ex-Jugoslawien auf einem Bahnhof steht, hat sie immer noch die großen Bilder von Russischen Büchern im Kopf. ?Die einzigen Weiten, die wir uns vorstellen können, verdanken wir russischen Büchern.?

Urs Faes, Als hätte die Stille Türen

h.schoenauer - 31.07.2005

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Wir sind Spätlinge.? ? Der Komponist Alban Berg schreibt in den Zwanziger Jahren die hitzigsten Liebesbriefe der Literaturgeschichte an seine Freundin Hanna Fuchs-Werfel, er ist aufgewühlt in seiner Spätleidenschaft, und die Stille zwischen den Tönen hat Türen.

Den Journalisten David Rudan trifft es kurz vor dem Jahrtausendwechsel ähnlich heftig. Eigentlich will er vor seiner Pensionierung noch etwas über Bäume schreiben, das passt gut in den Herbst, aber da kriegt er dieses Stechen im Unterleib und erkrankt sinnlos schwer und lebensmüde.

Waltraud Seidlhofer, Gehen ein System

h.schoenauer - 25.07.2005

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Vielleicht ist "Gehen" nichts anderes als Schreiben mit dem Körper. Wenn man als Leser länger in Waltraud Seidlhofers System herumgeht, löst man sich in einer geschriebenen Gegend auf, während sich der Lesekörper zwischen den Zeilen herumtreibt. Ab und zu vertauschen Schreiben und Gehen ihre Funktionen und hinterlassen eine Stimmung wie nach einer gelungenen Wanderung.

Waltraud Seidlhofers "Gehen" hat etwas mit Dynamik und Stillstand zu tun. Erfahrene Läufer nennen diesen Zustand das Hoovercraften des Laufkörpers, ähnlich einem Helikopter rotiert die Wahrnehmung knapp über dem wahrgenommenen Grund und widersetzt sich der Fortbewegung.

Alexander Peer, Land unter ihnen

h.schoenauer - 25.06.2005

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Wie kann man mit dem Wissen von heute eine Entdeckernatur von damals beschreiben? Was könnten also die sogenannten Heroen Cortez und Vasquez wirklich gemeint haben, als sie die Neue Welt eroberten und alle vorhandenen Kulturen vernichteten?

Alexander Peer geht mit seiner Novelle jenen spannenden Überlegungen nach, die auch heute noch Helden ermuntern, in die Welt zu ziehen und diese für eine vage Idee zu unterwerfen. Der Titel der Novelle kann mehrfach gedeutet werden, einmal kriegen die Seefahrer nach langer Zeit wieder Land unter ihre Füße, sie bemächtigen sich des Landes und unterwerfen es, schließlich setzen sie das Land Zerstörungen aus, bis wirklich die Parole ?Land unter? passt.

Ludwig Roman Fleischer, Dorf der Seele

h.schoenauer - 25.06.2005

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Ludwig Roman Fleischer gehört zu den raren Autoren, die quasi im Alleingang die Gegenwartsliteratur neu schreiben. Alle gängigen Genres hat er mittlerweile aktualisiert.

Und ob es sich um unidyllische Weihnachtsgeschichten, den Schöpfungsbericht par excellence oder die verrückte Jubiläumsliteratur für eine öffentliche Einrichtung handelt, immer wird das literarische Genre in Frage gestellt und dann mit einem passenden Erzählportal upgedatet.

Hans Augustin, Und wohnt mitten unter uns

h.schoenauer - 13.06.2005

Buch-CoverEin Wort, das nicht gesprochen wird, verflüchtigt sich aus dem Wortschatz. Gott ist so ein Wort, das nach Ansicht von Hans Augustin ziemliche große Lust auf Verflüchtigung hat. In knapp fünfzig Gedichten wird daher Gott wieder in den Sprachgebrauch reanimiert, und das in recht aufregendem Ambiente.

"Und wohnt mitten unter uns" ist der Versuch, Gott als rare Begebenheit mit dem Alltag in Verbindung zu bringen. Dabei werden einige Satzteile aus der Schöpfungsgeschichte oder anderen so genannten Heiligen Schriften zu einem Gedicht ausgebaut. Daraus ergibt sich jeweils ein interessantes Gebilde, worin Kult und Alltäglichkeit verschmelzen.

Yasmina Reza, Adam Haberberg

h.schoenauer - 06.06.2005

Buch-CoverDas Thema ist diese leichtfüßige Zeit, wie sie sich vor allem in französischen Romanen darstellen lässt.

In der deutschen Übersetzung kommt diese lucide Zeitwahrnehmung als Präsens daher, aktuell und zeitverzögert erinnert in einem. Auch diese Zeitwörter des Sich-Anschickens, die wir seit Proust so schätzen, sind wieder da: „Adam entledigt sich seines Mantels. Marie-Thérèse geht ihn aufhängen und kommt mit einem Glas Wasser zurück.“ (86)

Kerstin Hensel, Falscher Hase

h.schoenauer - 05.06.2005

Buch-CoverDie größte Aufregung eines Beamten ist sicher der Antritt der Pension. Der Roman "Falscher Hase" setzt denn auch mit einem Supersatz ein, der durchaus das Zeug zur Weltliteratur hat: "Kommissar Paffrath hat es ausgestanden. (5)

Jetzt geht der Kommissar also in Pension, hat sein Leben nichts anderes getan als diesen blöden faschierten Braten gegessen, den falschen Hasen eben. Und stets gehorsam Dienst geleistet, wie sein Vater, nur dass dieser Brände gelöscht hat während der Nazizeit. Und der junge Heini hat Fälle gelöst hat, quer durch alle Regimes.

Edgar Hilsenrath, Das Märchen vom letzten Gedanken

h.schoenauer - 29.05.2005

Buch-CoverEdgar Hilsenrath ist in der Literatur ein beinahe schon unheimliches Unikat. Je schärfer das Schicksal zuschlägt, umso witziger wird er, könnte man plakativ sagen. Seine Texte haben im schmerzlichen Fundament die Schrecknisse des Holocaust eingegossen, aber darüber versuchen sie rettend skurril schräge Geschichten zu erzählen.

Jetzt ist das Gesamtwerk in einer gepflegten Ausgabe erschienen, das Hauptwerk ist darin "Das Märchen vom letzten Gedanken". Hier liegt die Überlegung zugrunde, dass es am Ende des Lebens einen Gedanken gibt, der zeitlos alles erklärt und gültig macht. Im Märchen vom letzten Gedanken sucht dieser Gedanke die Geschehnisse um den Völkermord an den Armeniern 1915 auf. Vielleicht kann man über den Holocaust sprechen, wenn man ganz woanders hinfliegt, lautet die Überlegung.