melinda nadj abonji, schildkrötensalatZusammengesetzte Wörter verlieren oft die Eindeutigkeit, obwohl mit jedem Wortsegment die Sache noch genauer beschrieben werden soll. Der Schildkrötensoldat kann eine langsame Witzfigur aus einem Bilderbuch sein, genauso aber auch eine bewaffnete Kröte oder ein Soldat, der hinter einem Schild versinkt.

Melinda Nadj Abonji verwendet den seltsamen Begriff „Schildkrötensoldat“ vor allem deshalb, weil er in seiner Rätselhaftigkeit gut für Kreuzworträtsel verwendbar ist. Und das Kreuzworträtsel ist die einzige Form der Wahrnehmung, die für Zoltán Kertész relevant ist.

markus lindner, kleiDie intensivsten Romane sind immer jene, die einem Zustand, Material oder einer Lage gewidmet sind. Klei ist alles davon und so etwas wie der reine Roman. Klei ist nichts anderes als getrockneter Schlick, der sich jeden Tag neu formiert, um sich nach einer Weile wieder zu verlagern.

Markus Lindner zeigt vielleicht so etwas wie eine mentale Robinsonade, einen Bildungsroman über einen Aussteiger, der auf dem Weg in die Zukunft im Lebens-Schlick hängen bleibt.

mich vraa, die hoffnungDas klassische Sklaventhema gilt in Philosophie, Literatur und Politik seit dem amerikanischen Bürgerkrieg als abgehakt. Wenn man dann freilich hinter die glatte Fläche der Smartphones blickt, sieht man hinter den Apps die Sklaven der Gegenwart, wie sie die seltenen Erden schürfen, während wir damit belanglose Nachrichten herumsenden.

Mich Vraa widmet sich in seinem Roman „Die Hoffnung“ jener Bruchlinie, an der die Sklavenhalterei zuerst von Eliten in der Hauptstadt abgeschafft wird, während es draußen in den Kolonien noch ein paar Generationen braucht, bis sich diese Gesetze durchsetzen. Dänemark gilt in unseren Kreisen als das Musterland von Pädagogik und Inklusion, dennoch ist es über die Karibik und die Handelsgesellschaften stark in den Sklavenhandel verstrickt.

siroos mirzaei, das geheimnis von hokumanaSchon eine weltliche Revolution zu veranstalten, ist nur wenigen Helden möglich. Jedoch eine göttliche Revolution zu zünden, ist fast nicht von dieser Welt!

Siroos Mirzaei gelingt etwas schier Unglaubliches: Er entwirft eine göttliche Revolution gegen einen Gottesstaat und behält dabei einen beinahe ironischen Überblick. „Das Geheimnis von Hokumana“ wird aus der Sicht einer Frau heraus erzählt, die mit dem Gottesstaat im Iran genug hat und sich überlegt, wie man dem Land wieder Hoffnung und Zukunft geben könnte. Dabei nützt sie zwei weise Revolutionstheorien: Die Menschen machen nur mit, wenn es um Kohle geht und sie hinten nach besseren Konsum kriegen, und einen Gottesstaat kannst du nur mit Gott umbauen.

roamn israel, flugobstDas Gegenteil von Fallobst ist Flugobst. Während das eine satt und bodenständig auf der Erde aufschlägt und zu Schnaps verarbeitet wird, kommt das andere edel und exquisit mit dem Flugzeug von den Enden der Erde angeflogen.

Roman Israels Flugobst ist ein sogenannte Klusen- oder Übergangsroman. An der Grenze der ehemaligen Brüderländer DDR und Tschechoslowakei rückt der Westen unbarmherzig in die kapitalistisch brachliegenden Ländereien ein und überhäuft alles mit dem goldenen Glanz des frischen Geldes.

judith taschler, davidIn der Literatur tritt das Unwahrscheinliche völlig selbstverständlich auf. Eine Frau kracht mit dem Auto gegen einen Baum und ist tot, sie wird von einem Jungen gefunden, der nicht weiß, dass er gerade die leibliche Mutter birgt.

Judith Taschler erzählt in ihrem Roman David von einer Art literarischer Familienaufstellung. Jede Figur hat darin eine wohl-komponierte Aufgabe, und wenn eine fehlt, wird der Roman sofort unruhig und unrund. Schon beim Eintritt in das Buch stößt der Leser auf der Umschlaginnenseite auf einen seltsamen Stammbaum. Er ist wie üblich über mindestens drei Generationen angelegt, aber nur die Felder der Heldinnen sind ausgeschrieben, die Felder der Zugeheirateten bleiben leer. Erste Lehre aus dem Roman: Wir lesen Stammbäume immer pragmatisch, was wir nicht brauchen können, lassen wir weg.

bild sebastian guhr_die verbesserung unserer träumeEin utopischer Roman kann zeitlich und räumlich Lichtjahre entfernt sein, es wird in ihm doch die irdische Gegenwart erzählt, weil Autor und Leser nicht aus ihrer Haut können.

Sebastian Guhr schickt alle auf den lebensfeindlichen Planeten Rheit, wo einst einmal ausgewanderte Menschen eine Siedlung erbaut haben, die allen Widrigkeiten trotzt und Platz für die Träume schafft.

bild michael dibdin im zeichen der medusaAls Information über ein Land sind Krimis nur eingeschränkt nützlich. Üblicherweise haben Krimi-Autoren nämlich kaum Arbeit mit der Recherche, sie googeln grob ein paar Ortschaften herunter und geben dem Helden ein paar sinnlose Aufgaben.

Der englisch-amerikanische Autor Michael Dibdin (1947-2007) hat längere Zeit in Perugia unterrichtet und bei dieser Gelegenheit elf Krimis über die entlegensten Teile Italiens geschrieben. So ist auch Südtirol zu einem Roman gekommen, der allerdings nur dünn in Bozen und in einem versteckten Militär-Tunnel in den Dolomiten spielt.

bild davis samuel johnson ist ungehaltenUnverwechselbare Erzählerinnen liefern nicht nur Stoffe und Plots, sondern kümmern sich auch um jenen Tick, der diese Stoffe dann zu einer „Erzähl-Marke“ macht.

Lydia Davis arbeitet seit Jahrzehnten an ihren Stories, die mal ganz knapp an ein Tagebuch herangeführt sind, dann wieder als Zitat-Inseln für größere Werke angelegt sind, und die schließlich testen, ab wann die kritische Grenze einer Story erreicht ist, sodass sie als bloße Zeile in sich selbst zusammenbricht wie ein abgeglänzter Stern.

beaumarchais_briefe ohne nadelnDie erotische Freizügigkeit wird oft als linearer Vorgang missverstanden, wonach die Gesellschaften jedes Jahr frecher werden müssten. In Wirklichkeit ist die Gegenwart oft ganz schön verklemmt, wenn man sie an wilden Epochen misst.

Eine Gesellschaft voller haptischer und genitaler Üppigkeit breitet sich in den höheren Kreisen des Ancien Régimes am Vorabend der Französischen Revolution aus. Unter anderem werkelt ein gewisser Beaumarchais als Erfinder, Schriftsteller und Lobbyist am Hof. Er ist der „Vater des Figaro“ und wird als solcher unsterblich in die Literaturgeschichte eingehen.