tina pruschmann, lostageWem die Natur zu wenig dramatisch ist, der baut in der Landwirtschaft gerne sogenannte Lostage darin ein. Lostage verstärken einen Zustand ins Unermessliche und wirken wie eine Zauberkraft. Wer an Lostagen alles richtigmacht, kann die Natur vielleicht überlisten. So sind Lostage Wünsche und augenzwinkernde Logik in einem.

Tina Pruschmann nimmt diese geheimnisvollen Lostage zum Anlass, um das gewöhnliche Leben aufzuschlüsseln. Jeder von uns erinnert sich an sogenannte Schlüsseltage, an denen sich das Leben entscheidend verändert hat. Wenn man nun Macht über diese besonderen Tage hätte, hätte man auch Macht über das Leben. Der Witz ist nur, dass sich oft erst lange hintennach entscheidet, ob ein Ereignis damals ein Lostag gewesen ist.

kat kaufmann, Die Nacht ist laut, der Tag ist finsterGigantische Begriffe wie laut und finster lassen sich nur schwer beschreiben, denn jede einzeln beschriebene Teilmenge daraus dämpft ja die Lautstärke oder die Finsternis.

In Kat Kaufmanns Roman geht es chaotisch zu. Als Leser hat man beide Hände voll zu tun, den Text im Zaum und auf dem Display oder Papier zu halten, die Sätze sind flüchtig und hauen sofort in die Lese-Umgebung ab, wenn man eine Seite aufschlägt.

paulus hochgatterer, Der Tag, an dem mein Großvater ein Held warIn Ausnahmezeiten zeigen sich die tiefsten Schichten der Persönlichkeit auf der Außenseite der Helden, während das übliche Gehabe oft in der Tiefe verschwindet. Wendezeiten wenden Innenwelt und Außenwelt des Individuums.

Paulus Hochgatterer erzählt im Stile jener Gutachten, die er oft über die Psyche von irritierten Kindern verfassen muss, von Menschen im Ausnahmezustand in den letzten Kriegswochen. Auf einem Bauernhof im Gelände zwischen Linz, St. Valentin und Amstetten taucht ein verstörtes Mädchen auf, das ein paar Brocken einer verschütteten Biographie ausspuckt. Aus der Innensicht erfahren wir, wie es über das Sprechen der anderen, über Seitenbemerkungen und Brocken der Erinnerung zu einer schlüssigen Identität findet. Man nennt es Nelli, es ist bei einem Bombenangriff auf die Nibelungenwerke übriggeblieben und angeblich Donauschwabe.

gerhard henschel, arbeiterromanWenn ein Held lange auf Sendung bleiben soll, muss er sich zwischendurch immer wieder häuten und neu erfinden. Martin Schlosser, der Held von Kindheits-, Abenteuer- Bildungs- oder Künstlerroman, wird im siebten Roman Arbeiter.

Gerhard Henschel zieht im „Abenteuerroman“ wieder alle Register, um eine Art zeitgenössische Alltagschronik der späten 1980er Jahre auf die Beine zu stellen. Martin Schlosser, der schon längere Zeit in einer Spedition arbeitet, zieht eines Tages die Reißleine und verändert sich.

franzobel, das floss der medusaDie Aufgabe eines ernsthaften Schriftstellers ist es, die Gesellschaft unabhängig von Moden mit aktueller Erzähltechnik vertraut zu machen und sie mit relevanten Themen in alternativen Gedankengängen zu unterstützen.

Franzobel erzählt das „Floß der Medusa“ in einem Kontext, wo in den Nachrichten stündlich gescheiterte Flöße im Mittelmeer vorkommen und „die Leichen wie Brotwürfel in der Suppe treiben“. (434) Die Magie vom Floss der Medusa besteht aus zwei Teilen, aus dem Plot und den Anstrengungen der Künste, dieses Vorkommnis als Mustergeschichte für Aufklärung zu verwenden.

martin dragosits, weiße kreideObwohl Lyrik ständig mit Schnappschüssen und Bildern arbeitet, zeigt sich in ihr immer auch eine Dynamik, eine Bewegung oder ein Lebenslauf.

Martin Dragosits arbeitet schon im Titel mit der Fügung von der weißen Kreide, die je nach eigener Erfahrung beim Leser das flunkernde Wissen an der Tafel evoziert, wo die weiße Kreide in der Hand während einer Prüfung zu Mehl zerbröselt ist. Anderen wird vielleicht ein Stück verfallende Insel ins Auge springen, wenn nach hohem Wellengang abermals und abermals ein Stück Kreide-Küste im Wasser liegt. Und dieses Zerbröseln der Zukunft liegt schließlich auch an den Göttern, wenn sie mit uns die letzte Runde spielen.

ludwig roman fleischer, atlantisIn der vollkommen geglückten Geschichtsschreibung fallen individuelle Schicksale gestochen scharf aus der Teigmasse der allgemeinen Geschichte, der Vorgang des Erzählens gleicht dabei dem Keksausstechen eines neugierigen Kindes aus dem ausgewalzten Teig.

Ludwig Roman Fleischer beschreibt schon seit Jahrzehnten nichts anderes als die jeweilige Gegenwart, dabei sind seine Romane oft blumiger und ermunternder als die dargestellte Gesellschaftsmasse. Im aktuellen Roman „Atlantis“ nähern sich angehende Pensionisten auf einem Kreuzfahrtschiff einem Felsen, an dem sie glücklicherweise zerschellen dürfen.

johannes voskuil, Das Büro 5Ein gigantisches Romanwerk im Ausmaß von über fünftausend Seiten fordert vor allem den Autor, der alles unternehmen muss, um nicht während des Romans zu versterben. Und Unsterblichkeit ist auch vom Übersetzer verlangt, dass er nicht aufgibt. Ein Gigawerk fordert Verlagswesen und Buchhändler heraus und schließlich die Leserschaft. Ein Wahnsinnswerk bringt überhaupt alle an ihre Grenzen.

Johannes J. Voskuil erzählt im „Büro“ die Geschichte der Niederlande zwischen 1957 und den beginnenden 1990er Jahren. Archiv, Forschungsstätte und Weltraumbahnhof der Fiktionen ist dabei ein Volkskundeinstitut, das alles von Sprache, über Gartenzwerge bis hin zu Musik und Lagerfeuern erforscht. Ziel ist es, von der Peripherie her und vom flachen Land aus in die Zentren großer Gedankenentwürfe vorzudringen.

matthias politicky_schrecklich schön und wildReisen ist ein Teil des Konsums, weshalb sich in unserer Gesellschaft niemand daraus davonschleichen kann. Wer nicht selbst reist, zu dem kommen andere, um zu sehen, wie jemand Sesshafter ausschaut.

Matthias Politiycki reist, seit er auf der Welt ist, um die Welt. Als Kind ist er hinten in einem Käfer gesessen und hat noch nicht gewusst, dass es reisen heißt, wenn der Vater wie wild durch die Kurven fährt.

josef wallinger, kindheit in pradlDie affirmative Geschichtsschreibung versammelt die Menschen in ihrem biographischen Herbst und lässt sie schöne Geschichten aus der Kindheit erzählen. Dadurch wird die Vergangenheit erst einmal in eigene Worte gefasst und später zu einem Narrativ, das dem gesamten Leben einen Sinn gibt.

Josef Wallinger starte die Serie der Erinnerungen an Innsbruck mit seiner „Kindheit in Pradl“. Pradl ist dabei der Stadtteil östlich der Sill, der beinahe überall noch von Feldern umgeben ist. Der Autor empfindet seine Kindheits-Wohnung als Mittelpunkt der damaligen Welt, darum herum ist der Stadtteil Pradl aufgebaut. Das Volksschulkind schwebt ein paar hundert Meter die Hauptstraße der Pradler Straße entlang zur Volksschule, später erkundet das Kind die Umgebung, ehe es als Jugendlicher den Stadtteil auswendig gelernt und erobert hat.