Das Lesesymposium 2007 in Innsbruck. Teil 1

Am Dienstag den 12. Juni 2007 fand das vom Bundesministerium für Bildung, Kunst und Kultur in Zusammenarbeit mit dem Buchklub organisierte Lesesymposium erstmals in Tirol statt. Die Veranstaltung, die im Haus der Begegnung durchgeführt wurde, stand ganz unter dem Motto „LesepartnerInnen“.

Der Geschäftsführer des Österreichischen Buchklubs, Gerhard Falschlehner führte durch ein dicht gedrängtes Programm, das am Vormittag vom Referat der international renommierten deutschen Literaturwissenschaftlerin Univ. Prof. Dr. Cornelia Rosebrock geprägt war. Am Nachmittag hatten die zahlreichen Besucher aus allen österreichischen Bundesländern die Gelegenheit aus zehn Workshops zu den unterschiedlichsten Bereichen der Leseförderung auszuwählen.

 

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Begrüßung durch Landesschulinspektor HR Dr. Reinhold Wöll:

Eröffnet wurde das Lesesymposium 2007 von Landesschulinspektor Dr. Reinhold Wöll, der im Namen des Landesschulrats für Tirol die zahlreichen Gäste aus ganz Österreich begrüßte. Er zeigte sich in seiner Ansprache erfreut darüber, dass das Lesesymposium erstmals in Tirol durchgeführt wird und bemerkte: „Tirol hatte schon zwei Olympiaden, aber noch kein Lesesymposium. Wir planen nun bereits, den Leseäquator durch Tirol zu ziehen!“

Lesen ist mehr als ein nur ein Fach sondern eine Haltung. Eine tägliche Übung, so wie Essen, Atmen, Lieben und Lachen. Wir haben daher in Tirol das Motto eingeführt. L hoch 3: Lesen, Lernen, Lachen. Dieses Motto L hoch 3 ist ungeheuer wichtig auch in der künftigen Entwicklung. Derzeit werden in ganz Österreich die Pädagogischen Hochschulen neu installiert und hier bitte ich um Unterstützung, dass das Lesen, die Leseinitiative und die moderne Lesedidaktik ein elementarer, wenn nicht zentraler Teil der pädagogischen Ausbildung sein muss.

Bildung ist der Plan von der Abschaffung des Dunkels der Intoleranz, der Ignoranz. Bildung ist die höchste pädagogische Aufgabe und Pädagogik eine Wissenschaft vom Optimismus, wenn wir daran glauben, dass wir all jene Dinge, welche die Welt zum Schlechten führen, ändern und diese Hoffnung den jungen Menschen auch mit auf den Weg geben können. Dies können wir durch nichts besser mitgeben als durch Motivation und durch den Beitritt zur größten Gemeinschaft, die es auf dieser Welt gibt: nämlich zur Lesergemeinschaft. Umberto Eco hat ein Buch geschrieben mit dem Titel „Die Bücher und das Paradies“, in dem er schreibt, dass es ohne Bücher kein Paradies gebe.

 


Der Landesschulinspektor für die Tiroler Pflichtschulen Dr. Reinhold Wöll zeigte sich sichtlich erfreut, das Österreichische Lesesymposium erstmals in Tirol durchführen zu können. Foto: Markt-Huter

 

 

Es ist unsere Aufgabe den jungen Menschen dieses Leseparadies, dieses Leseerlebnis zu vermitteln. Es stellt sich natürlich die rhetorische Frage, ob jede Lesestunde für den Schüler auch ein paradiesischer Zustand ist. Wir müssen noch mehr für alle weniger begabten und weniger geübten Leserinnen und Leser unternehmen. Auch diese haben ein Recht auf eine kompetente Ausbildung, auch was das Leserüstzeug anbelangt.
Lesen ist also ein Gesamtdesign für das Leben. Die Sorge, dass der Bildschirm das Buch verdränge, ist unbegründet.

Es ist die private Entscheidung, was immer ich mache. Es gilt nur den jungen Menschen den richtigen Zugang zur Literatur gewähren. Im „Halsband der Taube“von Ernst Wilhelm Heine heißt es: „Wissen ist der einzige Schatz, der dich behütet.“ Alle anderen Schätze muss man bewachen, versichern und man muss ständig Angst haben, sie zu verlieren. Ich möchte daher mit Descartes schließen, der gesagt hat: „Cogito ergo sum“ Ich denke also bin ich und möchte es umwandeln in „Lego ergo sum“ Ich lese also bin ich.

Begrüßungsreferat von Dr. Reinhard Streyhammer, der die Anwesenden
im Namen von Bundesministerin Dr. Claudia Schmied herzlich willkommen hieß:

Für das Lesen benötigt es zwei Dinge. Das Erste ist das Interesse und das Zweite ist die Lesefertigkeit. Wer aus mangelndem Interesse wenig liest, kann das Lesen auch nicht ausreichend erlernen. Muss er dann gezwungener Maßen trotzdem hin und wieder lesen, ist es meist ein sehr unerquickliches Erlebnis und er kommt in eine Art Teufelskreis, eine Situation die mittlerweile bei unseren SchülerInnen immer häufiger vorkommt.

Werfen wir zunächst einen Blick auf das Thema Lesefertigkeit. Wir kennen die Befunde der PISA-Studien. Wir erwarten im Herbst die Ergebnisse der 3. PISA-Studie und was bereits gemunkelt wird, gibt es keinen uneingeschränkten Grund sich darauf zu freuen. Die Zahl der Schülerinnen und Schüler, die Schwierigkeiten mit dem Sinn erfassenden Lesen haben, lag bei der 1. PISA-Studie bei ungefähr 18% und bei der 2. Studie bei ca. 20%. Es gibt mittlerweile gute Prüfinstrumentarien, um Defizite dieser Art festzustellen. Wichtig ist also einmal die Diagnose. In der Folge stehen heute eine ganz Reihe an erprobten Programmen zur Leseförderung zur Verfügung, die auch in der Schule Anwendung finden.

Wenn es um das Leseinteresse, um den Aspekt der Motivation zu lesen geht, müssen wir ganz nüchtern feststellen: das Interesse am Lesen hat bei jungen Menschen ganz erheblich nachgelassen. Bei den Mädchen bekanntlich deutlich weniger als bei den Buben. Die Gründe dafür sind noch nicht ausreichend erforscht. Wir können mutmaßen, dass sich in diesem Verhalten die moderne hektische Lebenswelt wiederspiegelt. Die große Konkurrenz durch die elektronischen Medien - wie etwa das Fernsehen - und das fehlende Vorbild leidenschaftlich lesender Eltern dürften die Lesemotivation der Kinder deutlich geschwächt haben. Wissenschaftliche Studien belegen, dass ca. 80% der Lesesozialisation in den Familien stattfindet. Das heißt, diese fehlenden 20% hat immer die Schule kompensiert und dieser Abstand nimmt immer mehr zu.

 


Dr. Reinhard Streyhammer, zuständiger Beamte für die Leseerziehung im BMUKK von der Abteilung V/12 "Interkulturelles Lernen, Sicherheitserziehung, Leseerziehung" begrüßte die Anwesenden im Namen von BM Dr. Claudia Schmied. Foto: Markt-Huter 

 

Es zeigt sich, dass es heute immer schwieriger wird eine einigermaßen solide Leseerziehung in den Familien zugrunde zu legen. Wenn wir uns die Schule betrachten, müssen wir eingestehen, dass auch hier eine Reihe von essentiellen Fehlern gemacht worden sind. Ich nenne dazu das Schlagwort des „Verordneten Lesens“. Die Lebenssituationen und Interessenslagen der Kinder wurden vielfach eigentlich wenig beachtet. Wir wissen aber aus wissenschaftlichen Studien, dass es Wege gibt, um die Schüler zum Lesen zu motivieren. Es gilt also zunächst einmal die Lebenssituation, die Interessenslage, eigentlich die ganze Sozialisation des Kindes zu berücksichtigen. Eine moderne Formulierung besagt: „die Schüler sind dort abzuholen, wo sie sich gerade befinden" und das gilt auch für das Lesen in ganz besonderer Form.

Lesen muss als individuell sinnvoll erfahren werden, als etwas das z.B. hilft, ein unmittelbares Problem zu lösen. Diese Art sinnstiftend zu wirken, ist bei jungen Menschen von ganz großer Bedeutung. Mit Lesen und den damit verbundenen Texte muss man sich trauen spielerisch auseinander zu setzen. Die Schulen der Zukunft sollten Experimentierbühnen sein, wo SchülerInnen sich zwanglos mit Sprache auseinandersetzen und experimentieren können. Es gilt daher auch unseren hehren Lesebegriff, der immer noch in unseren Köpfen herumgeistert, ein wenig zu entstauben.

Wir haben daher unserer Initiative "Lesepartner" vorangestellt, dass alles, was im weitesten Sinn mit Lesen zu tun hat, sinnvoll und auch in der Schule willkommen ist. Sei es nun ein SMS oder eine elektronische Werbefläche im öffentlichen Raum. Es muss nicht immer nur ein Buch sein. Ob man sich durch eine Bedienungsanleitung quält oder eine Zeitschrift schmökert: Hauptsache, es wird gelesen. Die PISA-Studie hat gezeigt, dass die schulische Lesepraxis sich mehr und mehr dem Sachtext zuwenden sollte. Wir müssen Wert darauf legen, dass der Sinn eines Textes verstanden wird und den Schwerpunkt ein wenig von den sogenannten narrativen, literarischen Texten nehmen.

Es ist mittlerweile wissenschaftlich geklärt, dass sich Buben und Mädchen sowohl in Bezug auf den bevorzugten Lesestoff als auch in Bezug auf ihre Lesegewohnheiten deutlich voneinander unterscheiden. Um wirklich gut und klug zum Lesen motivieren zu können, muss diesem Umstand, dem sogenannten „Genderaspekt“, in großem Umfang Rechnung getragen werden. Ich möchte Sie in diesem Zusammenhang auf die interessante Studie von Dr. Margit Böck mit dem Titel "Gender & Lesen. Geschlechtersensible Leserförderung" hinweisen. Sie finden hier sehr viele praktische und methodische Hinweise für die Arbeit im Unterricht.

Der Startschuss für unsere Initiativen zur Leseförderung, erfolgte nach einem Schock, nachdem die Ergebnisse der PISA-Studie 2003 im Jahr 2004 bekannt worden waren. Ziel der Initiative war zunächst einmal, einfach die Wichtigkeit des Lesens aufzuzeigen, die gesamte Schulgemeinschaft einzubinden und Leseförderung in allen denkbaren Unterrichtssituationen zu betreiben. Schulen sollten noch viel mehr als früher zu Orten des Lesens werden. Es wurde versucht, dabei alle Leistungsgruppen gleichermaßen anzusprechen: den schlechten Leser wie den Meisterleser. Als besondere Zielgruppen wurden die sogenannten Spätleser der Altersgruppe der 15-, bis 16-jährigen in den Berufsschulen sowie Kinder mit einer anderen Erstsprache als Deutsch ausgewählt.

 


Dr. Streyhammer zeigte sich begeistert über die Vielzahl und Vielfalt an Leseprojekten, die in den letzten Jahren an den Schulen in den österreichischen Bundesländern ins Leben gerufen worden sind. Foto: Markt-Huter

 

Ich möchte in einer Art Zwischenbilanz seit dem Start der Initiative zur Leseförderung festhalten, dass auf den unterschiedlichen Ebenen der Schulverwaltung, aber hauptsächlich auch an den Schulen eine unglaubliche Fülle an Ideen und Projekten ins Leben gerufen worden sind. Was hier gewachsen ist, hätten wir uns in unseren kühnsten Träumen nicht vorstellen können. Lesen ist auf diese Art und Weise zur wichtigen Agenda an den Schulen erklärt worden. Unsere Initiative von Seiten des Bundesministeriums konnte daher nur gelingen, weil bereits an den Schulen der Wunsch und die Erwartung einer Initiative zur Leseförderung vorhanden waren.

Ein neues Projekt dieser Initiative trägt den Namen „LesepartnerInnen“ und geht aus einer Erkenntnis eines Forschungsprojekts hervor, das in Salzburg durchgeführt wurde. Es wurde festgestellt, dass es für leseschwache Schüler der Grundschule ungemein hilfreich ist, wenn sie drei Monate lang 15 Minuten am Tag mit einem Partner lesen. Die Partner können die Eltern sein, Erwachsene oder ältere Schüler. Beeindruckend an diesem Projekt sind sowohl die augenfällig erzielbaren Erfolge, als auch der höchst bescheidene Aufwand, der von jeder Schule durchgeführt werden kann. Wir haben österreichweit mehr als 40 Schulen für dieses Projekt gewinnen können, wo die Ergebnisse evaluiert werden. Dabei sind alle Bundesländer und annähernd alle Schultypen vertreten

Das Eröffnungsreferat zum Lesesymposium 2007 hielt die renommierte Literaturwissenschaftlerin Prof. Dr. Cornelia Rosebrock vom Institut für neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität in Frankfurt. Sie sprach zum Thema "Der Weg zur Lesekompetenz" über den Stand der Erkenntnisse in der wissenschaftlichen Forschung im Bereich des "Lesenlernens" und über mögliche Unterstützungen in der literarischen Sozialisation.

(Bei der folgenden Wiedergabe des Referats handelt es sich um eine Mitschrift, für die kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben wird. Manche Aussagen der Referentin könnten auch falsch verstanden wiedergegeben worden sein!)

Cornelia Rosebrock: Der Weg zur Lesekompetenz - Unterstützung in der literarischen Sozialisation

Ein gelungener Prozess des Lesenlernens könne, so Rosebrock, wie folgt beschrieben werden: Nach dem Leselehrgang im ersten Grundschuljahr erfolgt zunehmend eine Automatisierung der Worterkennung. Danach setzt eine Viel-Lesephase der späten Kindheit ein, in der sich Worterkennung und Leseflüssigkeit weiter entwickeln. Ein "langer Leseatem" und eine ausgeprägte Lesepersönlichkeit - ein Selbstkonzept als LeserIn oder NichtleserIn - entstehen.

Am Ende der Kindheit bereitet Lesen im Normalfall keine geistige Mühe mehr und die Leser können ihr Denken voll und ganz auf das Verstehen eines Textes konzentrieren. Bei ungefähr einem Viertel der SchülerInnen gelingt dieser Erwerbsprozess des Lesens aber nicht in der eben beschriebenen Weise. Bei SchülerInnen im Bereich der Sekundarstufe mit einer schwachen Lesekompetenz kann festgestellt werden, dass der Prozess der mentalen Verarbeitung von Texten beim Lesen nicht ausreichend automatisch erfolgt. Diese Jugendlichen sind zumeist noch damit beschäftigt, die einzelnen Buchstaben zusammen zu lauten und daher nicht in der Lage, altersgemäße Texte mühelos zu lesen. Diesen SchülerInnen bleibt die Erfahrung vorenthalten, dass Lesen belohnend, genussvoll und ertragreich sein kann.

 

 
Prof. Dr. Cornelia Rosebrock vom Institut für neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität in Frankfurt sprach über den aktuellen Stand der Erkenntnisse in der wissenschaftlichen Forschung im Bereich des "Lesenlernens". Foto: Markt-Huter 

 

Gilt es in der Grundschule zunächst das Lesen selbst als Tätigkeit zu erlernen, wird in den weiterführenden Schulen Lesen vorausgesetzt, um zu lernen. Fehlende Leseförderungsmaßnahmen nach der 2. Volksschulklasse, in denen das Lesen selbst als Lehrziel im Mittelpunkt steht, führen zu Problemen, wenn es gilt ein stabiles Freizeitlesen zu entwickeln.

Leseflüssigkeit und Leselust

Ein Verfahren zur Förderung der Leseflüssigkeit, das im angloamerikanischen Raum angewandt wird, ist das sogenannte "Paired Reading", das Partnerlesen. Dabei liest der Lernende einem Partner einen kürzeren Text so lange laut vor, bis er ihn gut lesen kann. Eine andere Variante ist das gemeinsame Lesen von Lernenden und Partnern im Chor.

Unter "Leseflüssigkeit" ist die flüssige, automatisierte und Sinn gestaltende Fähigkeit zur leisen und lauten Textlektüre zu verstehen. Zwischen der Leseflüssigkeit und dem Verstehen von Texten besteht ein enger Zusammenhang. Dabei zählen Schnelligkeit, Automatisierung und eine Segmentierungsfähigkeit zu den wichtigsten Kennzeichen der Leseflüssigkeit. Wie letztendlich ein Leser zu einem guten Leser wird, bleibt leider weiterhin ungeklärt. Der These "Lesen lernt man durch lesen" kann nach Meinung von Prof. Rosebrock nur eingeschränkt beigepflichtet werden, dass sie nur für bereits geübte Leser gelte. Kindern mit Leseschwierigkeiten könne nicht durch vermehrten Lesestoff geholfen werden.

Insgesamt können wir von einem knappen Drittel der jungen Erwachsenen sagen, dass Lesen für sie eine alltägliche kulturelle Praxis darstellt. Für rund zwei Drittel der 15-jährigen ist hingegen die Leseabstinenz das übliche, wie wir es auch aus den Angaben der SchülerInnen der PISA-Studie über ihr Freizeit-Leseverhalten wissen. Bei rund der Hälfte dieser Nicht- oder Wenig-Leser ist dies allein deshalb der Fall, weil sie nicht ausreichend lesen können. D.h. der Entzifferungsvorgang selbst gelingt nicht mühelos und das Lesen kann daher kaum als genussvoll und belohnend erlebt werden.

Bekannt ist der Einschnitt bei der Leseneigung in der Zeit der Pubertät. Aber auch ein Literaturunterricht, der wenig anregende Texte bietet, der das Lektüreangebot nicht individualisiert und der keine Aufmerksamkeit auf das Freizeit-Lesen der Jugendlichen legt, erweist sich als kaum förderlich, um zum Lesen zu motivieren. Maßgeblich am veränderten Leseverhalten beteiligt sind auch entwicklungspsychologische Veränderungen.

Die Art und Weise zu Lesen, die Kinder vor der Pubertät mit Büchern verbinden, taucht mit dem Ende der Kindheit nicht mehr auf. Die Jugendlichen brauchen nicht nur neue Bücher sondern sie müssen auch zu neuen Formen des Umgangs mit Büchern finden. Wenn sie z.B. in eine oppositionelle Haltung zur Familie, zur Schule oder zur Gesellschaft geraten, so ist natürlich die Kernfrage, ob die Bücher für sie eine Möglichkeit sind, diese Oppositionshaltung in der literarischen Erfahrung wieder zu finden und zu verarbeiten, also ob ihr Lesen sozusagen mit wächst mit den Veränderungen des eigenen Weltverhältnisses und damit das Lesen zu einer originär eigenen Möglichkeit der Erfahrung macht.

 


Der Prozess des Lesenlernens verläuft nicht bei allen Kindern gleich und so ergeben
sich auch sehr große Unterschiede im Bereich der Lesekompetenz und der Leselust. 
Die PISA-Studie 2003 hat gezeigt, dass ca. 20% der Pflichtschulabsolventen zu den
schlechten Lesern zählen und dass knapp 2/3 der Befragten nicht zum Vergügen lesen.
Foto: Markt-Huter

 

Bei Jugendlichen mit einem positiven literarischen Sozialisationsverlauf lässt sich eine solche Erfahrung wieder finden. In Lesebiographien taucht sehr häufig eine rhetorische Figur auf, mit der beschrieben wird, wie existentiell tief es gelungen sei, in dieser Lebensphase ein Verhältnis zur Literatur aufzubauen und wie flach und kalt im Gegensatz dazu der Schulunterricht empfunden worden sei.

Leseforschung und Leseförderung

Die wissenschaftliche Forschung zum Bereich Lesen neigt sehr stark dazu, Erfahrungen von Kindern und Jugendlichen aus dem Bereich der Mittelschicht zu verabsolutieren. Die meisten Daten stammen aus den Erfahrungen späterer Leserinnen und Leser, von Menschen also, deren Sozialisation zum Lesen durch eine Krise hindurch letztendlich glücklich verlaufen ist. Auch die Leseförderdiskussion, sei sie im engen Rahmen des Unterrichts oder im außerschulischen Feld des kulturellen Lebens, krankt an dieser Orientierung an der Mittelschicht, die bei der Diskussion um die Lesemotivation in das Zentrum gestellt wird.

Was wir nicht finden, sind jene Kinder, die überhaupt nie zu einer eigenständigen und vielfältigen Lesekindheit finden. Die Leseförderung zielt nahezu ausschließlich auf die Steigerung der Motivation zu. Es geht darum, die Jugendlichen zum Lesen zu verlocken in der Hoffnung, dass sich mit der Übung schon von ganz allein der Erfolg einstellt. Eine ausreichende Lesekompetenz wird dabei immer schon stillschweigend vorausgesetzt.

Es ist ein großer Verdienst der PISA-Studie aufzuzeigen, dass hier ein blinder Fleck in der gesamten Leseförderdiskussion liegt. Denn von solchen Lesefördemaßnahmen werden lediglich jene 12- – 15-jährige der Mittelschicht potentiell angesprochen, die ohnehin ein fruchtbares Umfeld in ihrer Lesekindheit hatten und nie in einem Orientierungstief gesteckt sind. Diese Form der Leseförderung geht hingegen an jenem Drittel der Jugendlichen spurlos vorbei, das diese Kindheit eben nicht hatte, das schon in der 2. Grundschulklasse mit dem Lesen aufgehört hat, das nur noch das unmittelbar Geforderte und nicht Mühevolle liest und das entsprechende Kompetenzdefizite angesammelt hat.

 


Die Lesegeschwindigkeit bildet einen wichtigen Indikator für die Fähigkeit, einen Text auch verstehen zu können. Erst ab einer bestimmten Lesegeschwindigkeit ist Textverstehen wirklich möglich. Foto: Markt-Huter

 

Am Beispiel einer Tonaufnahme eines Schülers aus der 6. Schulstufe beim Lesen, der den entsprechenden Text bereits vorher im Stillen durchlesen durfte, demonstrierte Prof. Rosebrock, dass bei fehlendem Lesefluss und einer Kodiergenauigkeit des Schülers von nur 95% des Textes, ein Verständnis des Textes, über die vokalen Zusammenhänge hinaus, nicht möglich ist. Um den Sinn eines Textes verstehen zu können, müssten LeserInnen eine Kodiergenauigkeit von mindestens 98% erreichen. Ein weiteres wichtiges Leseproblem liegt in der fehlenden Segmentierung des Textes.

Der Schüler liest dabei überwiegend nur Zweier- oder Dreierwortgruppen, was zu wenig ist, um einen Sinn zu erfassen. Unterschätzt wird auch, wie anstrengend, mühevoll und wie frustrierend solche Formen des Lesen eigentlich sind. Diesen SchülerInnen fehlt offensichtlich nicht nur die Motivation zu lesen, sondern sie dringen erst gar nicht in jene Dimensionen von Lektüre vor, die das Lesen erst genussvoll und belohnend machen. Es handelt sich dabei um SchülerInnen, die bereits in der Grundschule ein ganzes Stück hinter dem Lesefortschritt der anderen zurück bleiben und dabei Kompetenzdefizite ansammeln.

Um die Genese der Probleme von Kindern mit Kompetenzdefiziten beschreiben zu können, braucht es einen Lesebegriff, der die Leseleistung im Verlauf der Lesegeschichte eines Schülers aufmerksam betrachtet. Ein Lesebegriff also, der das Wechselspiel von Motivation und Kompetenz im langen Prozess der Lesesozialisation besser fassen kann und der nicht von der Beiläufigkeit des Kompetenzerwerbs ausgeht, wie es bei einer motivationsorientierten Förderung leicht geschieht. Es reicht daher nicht - so die These - diese Kinder nur zum Lesen motivieren zu wollen. Das kann nicht gut gehen, wenn die Leseschwierigkeiten durch eine fehlende Lesekompetenz ausgelöst werden.

Für die Sozialisation zur Lektüre in Kindheit und Jugend beim Mittelschichtkind gilt die literarisch orientierte Kinderliteratur als das zentrale Medium. Das nehmen wir vor allem deshalb an, weil bei ihnen das außerinstitutionelle Lesen deutlich durch Kinderliteratur bestimmt wird. Aus der Perspektive der bildungsfernen Jugendlichen, wird allerdings mit dem Versuch, diese zur belletristischen Literatur zu verlocken, nur ein kulturelle Habitus vorgeführt, zu dem sie von ihren Voraussetzungen her keinen Zugang haben: nämlich lustvolle Lektüre als Lebensstil. Für diese Kinder und Jugendliche ist Lesen eher mit Arbeit, mit Lernen und Mühe verbunden. Dies gilt es zunächst einmal anzuerkennen. Danach braucht es aber auch andere Leserunterstützer und Partner, die eine andere Art der Leseförderung praktizieren, als zum Lesen von Kinderliteratur zu verhelfen.

 


Die humanistische Bildungstradition in Deutschland und Österreich stellt auch heute noch das Bild des literarischen Lesens in den Mittelpunkt der Vorstellung vom Prototyp eines Lesers: die stillen und einsamen Leser belletristischer Literatur. Foto: Markt-Huter

 

In Deutschland ist die humanistische Bildungstradition sehr elementar mit der Ausbildung des Lesens verbunden, was sich wiederum auf die Vorstellung vom Erwerb der Lesekompetenz durchschlägt. Dabei wird das literarische Lesen als prototypischer Kern einer Lektüre verstanden und Leseförderung wird daher immer noch Verfahren gesehen, mit denen zum Lesen verlockt werden soll. Damit, so kann festgehalten werden, kommt die Mehrheit der Schülerinnen und Schüler der Mittelschicht, sehr gut zu Recht.

Nach dem unmittelbaren Lesenlernen setzt die Automatisierung der Worterkennung ein. Nach den Übungen und Animationen in den Grundschuljahren setzt in der späten Kindheit dieser späteren guten Leser eine Vielleserphase ein, in der auch in der Freizeit die Automatisierung der Worterkennung und die Leseflüssigkeit insgesamt fortentwickelt werden. Am Ende der Kindheit wird das Lesen schlichter Texte für diese Kinder mental soweit mühelos, dass die kognitiven Ressourcen für die eigentliche denkende Verarbeitung des Gelesenen zur Verfügung stehen können. Es kann nun auch aus anspruchsvolleren Texten gelernt werden, was normalerweise vor der Pubertätskrise der Fall ist. Auf diese Weise kommen bei Mittelschichtkindern in der Bundesrepublik gute Lesefähigkeiten zustande.

Auf dem Weg zum schlechten Leser

Dieser Verlauf funktioniert leider nur bei gut einem Drittel der Schüler nicht. Vom Ende des „Erstlesens“ bis zum Beginn der Pubertät können diese diese ihre Lesefähigkeiten nicht aktiv weiter entwickeln. Sie lesen alters angemessene Texte weiterhin stockend, sie verwenden wenig Energie darauf, die Texte mental zu verarbeiten und sie vermeiden das Lesen, wo immer es geht. Es öffnet sich ein Teufelskreis, in dem sich mangelnde Motivation und fehlende Kompetenz gegenseitig verstärken. Die schwachen Leser werden in Deutschland in der Regel in den Hauptschulbereich überwiesen, wo sie auf diesem Stand ihrer Lesefähigkeit und ihres mittlerweile negativen Leseselbstbildes üblicherweise nicht auf eine gezielte Leseförderung treffen.

Es ist ein ärgerlicher Umstand, dass - im Gegensatz zu anderen Bereichen des Deutschunterrichts - keine entwickelte Didaktik und Methodik des Lesens existiert. In den Bereichen der Grammatik, der Rechtschreibung und des Argumentierens finden wir durchgestaltete didaktische Hilfen für Schüler bis in die 10. Klasse hinauf. Nur für die Textverstehensfähigkeit endet die Didaktik zu dem Zeitpunkt, an dem Schülerinnen und Schüler einigermaßen leidlich kleine Texte laut vorlesen können, also etwa nach den ersten zwei Grundschuljahren.

Bei uns herrscht die Vorstellung, dass in der Grundschule die Idee des „Learning to read“ abgeschlossen sein soll. Die Sekundarstufe ist bereits von der Vorstellung des „Reading to learn“ geprägt. Im Literaturunterricht und in den anderen Aufgabenaspekten des Deutschunterrichts - aber auch in den anderen Fächern - kommt ein gezieltes, auf Lesekompetenz hin ausgerichtetes Training nicht mehr vor.

 


Lesen wird in unserem Schulsystem in zwei Abschnitte gegliedert, wobei in der Grundschule das Lesen erlernt werden soll. In den weiterführenden Schulen wird das Lesen vorausgesetzt, um zu lernen. Förderungen im Bereich der Lesekompetenz sind in diesem Schulabschnitt nicht mehr vorgesehen. Foto: Markt-Huter

 

Für Lehrkräfte fehlen wegen dieser mangelhaften curricularen Entwicklung sowohl die Diagnoseinstrumente, bei denen das Lesenverstehen neu erhoben werden könnte, als auch die entsprechenden Verfahren, um diese schwachen Leser wirklich zu fördern. Der Unterricht in der späten Grundschule und in den Folgejahren macht wider besseren Wissens, das Freizeitlesen zu seiner Voraussetzung, anstatt die tatsächliche Lektürepraxis ernst zu nehmen.

Dieser generelle Befund zur Genese schlechter Lesekompetenzen im dreigliedrigen Schulsystem hat eines der wenigen gesicherten Ergebnisse der Forschung zur Voraussetzung: nämlich die Wechselwirkung zwischen Unterrichtsmethoden und Lernerwerb. Wir wissen, dass Lernende mit ungünstigen Lernvoraussetzungen - dazu zählen niedrige Intelligenz, geringe Vorkenntnisse, hohe Ängstlichkeit sowie die Zugehörigkeit zu benachteiligten sozialen Schichten - von einem hoch strukturierten, lehrerzentrierten Unterricht mehr profitieren als Lernende mit guten Lernvoraussetzungen.

Eine offene Lernumgebung kann von den leseschwachen SchülerInnen-Gruppen weniger gut genutzt werden, weil sie die dafür notwendige konstruktive Eigenständigkeit nicht ausreichend ausgebildet haben. Für ihre Lesegeschichte heißt das nicht nur, dass sie schon von Beginn an zu wenig lesen sondern auch, dass sie für die einzelnen Leseakte nicht ausreichend mentale Verarbeitungsenergie zu investieren in der Lage sind. Für diese SchülerInnen bedeutet Lesen bereits gewohnheitsmäßig, sich durch einen Text hindurch kauen zu müssen.

Förderung der Leseflüssigkeit

In der angloamerikanischen Diskussion gibt es den Begriff der Leseflüssigkeit, der eine ganz wichtige Zwischenstation auf dem Weg zum Lesen beschreibt. Was vielen schwachen Lesern fehlt, ist oft die Leseflüssigkeit, das ist die schnelle, flüssige, automatisierte Fähigkeit zu lesen. Die Leseflüssigkeit stellt dabei einen Zwischenschritt zwischen der Dekodierfähigkeit von Wörtern und dem Textverstehen dar. Die späteren guten Leser erwerben die Leseflüssigkeit vermutlich, indem sie viel lesen.

Die Leseflüssigkeit ist deshalb von so großer Bedeutung, weil erst durch eine gewisse „Betriebsgeschwindigkeit“ des Lesevorgangs, der Zusammenhang eines Satzes oder einer Textsequenz im Gedächtnis bleibt. Das wiederum bildet die Voraussetzung dafür, um überhaupt eine Verstehensleistung erbringen zu können. Diese notwendige Leseflüssigkeit gelingt es nicht zu erreichen, ohne dass ein entsprechender Grundwortschatz aufgebaut wird, also ohne die Speicherung sehr vieler Wörter und Wortteile. Diese müssen dann nicht mehr gelesen, sondern können automatisiert erkannt werden.

 

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>> Das Lesesymposium 2007 in Innsbruck. Teil 2

 

 

 

Andreas Markt-Huter, 22-06-2007

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