Bilderbücher und ihre Bedeutung für die Entwicklung von Kindern – Teil 2

Titelbild: Kermit der Frosch liest ein Bilderbuch Sprachliche Fähigkeiten sind in der Schule eine wesentliche Grundvoraussetzung für den schulischen Erfolg. Diese Fähigkeiten entwickeln Kinder vom ersten Lebensjahr an, wobei es zu den wichtigsten Aufgaben des Kindergartens gehört, die unterschiedliche sprachliche Förderung in den Familien auszugleichen. Bilderbücher können dabei wichtige Anregungen zur sprachlichen Förderung bieten.

Das gemeinsame Lesen von Bilderbüchern lädt dazu ein, den Inhalt in Worte zu fassen und darüber zu sprechen. Das Vorlesen bietet ein ideales Umfeld für den Spracherwerb, in dem sie sich geborgen fühlen können. Außerdem konfrontiert es Kinder mit neuen Wörtern, die sie durch Wiederholen und Nachfragen bei den Erwachsenen richtig verstehen und verwenden lernen.

In der Realität des Kindergartens erweist sich die sprachliche Entwicklung der einzelnen Kinder häufig als sehr vielfältig und spiegelt die unterschiedlichen sprachlichen Anregungen und Förderungen durch die Familien in den ersten Lebensjahren wieder. Um den sprachlichen Entwicklungsstand des jeweiligen Kindes feststellen zu können, müssen die pädagogischen Fachkräfte zunächst eine Diagnose der Sprachkompetenz durchführen, um zu beurteilen, ob eine gezielte Sprachförderung oder eine Sprachtherapie notwendig ist, für die es eine Zusammenarbeit mit den Eltern braucht. Für die Diagnose selbst hat sich der gezielte Einsatz von Bilderbüchern als fruchtbar erwiesen, um die sprachliche Strukturen und die Sprache der Kinder zu analysieren.

Kinder profitieren sowohl sprachlich als auch kognitiv, wenn die Gespräche mit Erwachsenen auf Augenhöhe stattfinden, sie ihre Interessen gleichberechtigt in den Dialog einbringen können und ihre Meinungen im Gespräch auch aufgegriffen werden. Aber auch das Gespräch zwischen Kindern hilft die Regeln der Kommunikation und Sprache zu beherrschen und richtig einzusetzen. Durch gezielte Impulse können pädagogische Fachkräfte den sprachlichen Ausdruck von Kinder durch gezielte Impulse ergänzen und erweitern, indem sie die Äußerungen der Kinder korrigiert wiederholen, ohne den Erzählfluss der Kinder zu stören. Dazu hat sich das „Dialogische Bilderbuchlesen“ als besonders wirkungsvoll erwiesen, bei dem die pädagogische Fachkraft mit einem Bilderbuch in einer kleinen Gruppe von Kindern ein Gespräch einleitet, bei dem vor allem Kinder zum Sprechen und Erzählen angeregt werden sollen.

Kinder lesen im Stuhlkreis ein Kinderbuch
Das „Dialogische Bilderbuchlesen“ mit einer pädagogische Fachkraft und einer
kleinen Gruppe von Kindern hat sich als besonders wirkungsvoll erwiesen.

Foto. Tibs-Bilderdatenbank
 

Als sehr hilfreich haben sich Bilderbücher und das gemeinsame Vorlesen auch für Kinder mit anderer Muttersprache als Deutsch erwiesen. Auch auf den Erwerb einer Zweitsprache hat das sprachliche Umfeld einen ganz entscheidenden Einfluss auf die soziale, kognitive und sprachliche Entwicklung des Kindes. Zweisprachige Kinder profitieren dabei im Kindergarten ganz besonders von der überschaubaren und ritualisierten Form des Vorlesens. Sie können sich dabei an den Bildern orientieren aber auch nachfragen und nachahmen, wenn erzählt wird, was auch auf den Bildern zu erkennen ist. (39)

Dabei lernt das Kind die wichtigsten Merkmale der Zweisprache kennen und verstehen und lernt mit der Zeit die Sprache selbst richtig zu sprechen. Formelhafte Wendungen beim Vorlesen helfen den Kindern, Sicherheit zu gewinnen und Gespräche einzuleiten, aber auch die grammatikalischen Regeln zu verstehen.

Im Bereich der Kognition, also den bewussten und unbewussten Vorgängen des Denkens und der Wahrnehmung, spielen Bilderbücher bereits im Kleinkindalter eine wichtige Rolle, indem in den Büchern bereits ein erstes Wissen vermittelt wird z.B. über die Polizei, Feuerwehr, Baustellen, den Bauernhof usw., womit das das Denken unterstützt der Erfahrungshorizont von Kindern erweitert wird. (45)

Während Säuglinge lernen Objekte vom eigenen Selbst und dem eigenen Handeln zu unterscheiden, entwickeln Kinder bereits die Fähigkeit, Realitäten durch gedachte Vorstellungsbilder, Gegenstände oder Wörter geistig präsent zu machen. Mit Hilfe der Nachahmung entwickelt sich mit der Zeit die innere Vorstellung einer abwesenden Realität (44). Neue Studien haben nachgewiesen, dass die kognitiven Fähigkeiten eines Kindes nicht direkt von der sprachlichen Entwicklung eines Kindes abhängen, sondern dass Weltwissen und sprachliche Fähigkeiten sich vielmehr wechselseitig verstärken. Wissen ermöglicht es Kindern im Laufe ihrer Entwicklung komplexere Sprachformen zu Verarbeiten. Wissen und Denken helfen beim Erwerb weiterer Sprachkomponenten und erweitern auch die sprachlichen Fähigkeiten des Kindes. (45) Auf der anderen Seite haben die sprachlichen Fähigkeiten wieder einen Einfluss darauf, neues Wissen zu erwerben.

So kann beim Vorlesen von Kinderbüchern im Kindergarten das Kind aufgefordert werden, die Geschichte weiterzuerzählen, oder Sätze aus dem Buch auswendig zu lernen und sie dann beim Erzählen anzuwenden. Dabei unterstützen Reime die Merkleistung und schon kleine Kinder sind in der Lage Texte zu wiederholen und sich am Vorlesen zu beteiligen. (46)

Pädagogische Strategien die sowohl die Kognition als auch die Sozialkompetenzen der Kinder berücksichtigen, erweisen sich als besonders förderlich für die Entwicklung der Kinder. (46) Z.B. gemeinsames Nachdenken von zwei oder mehreren Personen, wie eine Geschichte weitergehen könnte.

Bild: Michelle Knudsen, Ein Löwe in der Bibliothek
Auch unterhaltsame Kinderbücher regen zum Nachdenken und Diskutieren an.
Lesen in Tirol: Michelle Knudsen, Ein Löwe in der Bibliothek!
Bild: Orell Füssli Verlag

 

Zu den wichtigen Teilbereichen der Kognition, die sich durch Bilderbücher fördern lassen zählen:

  • Aufmerksamkeit für bestimmte Teilbereiche eines Bildes bzw. einer Darstellung
  • Konzentration
  • Gedächtnis
  • Verknüpfung von Text und Bild
  • Verbindung von Bekanntem mit Neuem beim Betrachten von Bildern
  • Nachdenken über Inhalte
  • Entwickeln von Problemlösestrategien oder Handlungsalternativen
  • Wissensaneignung

Bilderbücher erweisen sich aber auch in Hinblick auf die Entwicklung sozialer und emotionaler Kompetenzen als überaus fruchtbringend. Gerade in Bereichen wie Kindergarten und Schule lassen sich in den vergangenen Jahren immer häufiger Verhaltensauffälligkeiten von Kindern erkennen, die auch in Studien festgehalten werden konnten (49), wo Pädagogen von einer Zunahme von Aufmerksamkeitsdefiziten, aggressivem Verhalten, Kontaktschwierigkeiten mit Gleichaltrigen sprechen oder eine abnehmende Bereitschaft konstatieren, zu teilen, nett und hilfsbereit zu sein bzw. die Gefühle anderer zu respektieren.

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Bilder: Kinder beim Sandspielen
Bilderbücher spielen eine wichtige Rolle bei der Entwicklung sozialer und emotionaler
Kompetenzen und das spätere soziale Verhalten von Kindern.
Foto: Pixabay – Arek Socha

 

Forschungen haben einen engen Zusammenhang zwischen der anhaltenden Feinfühligkeit in der frühen Kindheit und dem späteren sozialen Verhalten von Kindern feststellen können. Wobei der Qualität der Beziehung des Kindes zu den primären Bezugspersonen eine maßgebliche Rolle für dessen späteres soziales Verhalten zukommt.
So lassen sich beispielsweise Angstsymptome bei Kindern mit Bilderbüchern so verarbeiten, dass das Kind nicht direkt mit dieser Angst konfrontiert werden muss, sondern über das Modell im Bilderbuch Strategien entwickeln kann, mit dieser Angst fertig zu werden. Dabei lernt das Kind über das Buch, dass auch ein Held Angst haben kann und diese auch zeigen darf. Weitere Beispiele sind der Umgang mit Wut oder die Problematik, sich aus einer Gruppe ausgegrenzt zu fühlen oder andere auszugrenzen, die sich Hilfe von Bilderbüchern fruchtbar thematisieren lassen.

Auch für die Vermittlung wichtiger sozialer Werte wie Toleranz, Höflichkeit, Taktgefühlt, Rücksichtname auf andere, Gleichberechtigung usw. bieten Bilderbücher ein wichtiges Repertoire für Diskussionsgrundlagen und Vorbildern.

Entwicklung sprachlicher Fähigkeiten und Identität durch Dialog

Die sprachlichen Fähigkeiten von Kindern entwickeln sich durch das Sprechen mit den Eltern, im Dialog, wobei die Eltern in der Regel intuitiv die passenden Kommunikationsregeln mit dem Säugling oder Kleinkind einhalten. Aber auch das Kind lernt rasch, durch das eigene Verhalten die Reaktion der Eltern zu steuern. Neben dem Spracherwerb ist der Dialog auch wichtig für die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit und der Beziehung des Kindes zu den Eltern. Eltern müssen dazu feinfühlig auf die Signale der Kinder reagieren und dem Kind einen verlässlichen sozialen Rahmen bieten. Kinder müssen sich darauf verlassen können, dass ihr Verhalten anerkannt wird und einen Einfluss auf das Verhalten der Eltern hat. (70)

Im Kindergarten greifen die Kinder auf die Erwartungen zurück, die sie im Elternhaus entwickeln konnten, wobei die Kindergartenpädagoginnen bei den Kindern häufig mit sehr unterschiedlichen Voraussetzungen in Bezug auf das Selbstbewusstsein, aber auch die sozialen, kommunikativen und sprachlichen Fähigkeiten konfrontiert sind, die sich auch auf die Fähigkeit der Kinder zu erzählen, Dialoge zu führen oder bestimmte Regeln und Vereinbarungen einzuhalten, auswirkt.

Auch hier können Bilderbücher wieder helfen, die Sprache in einem verlässlichen Raum zu erlernen und spielerisch die Regeln, Formen und Funktionen der Sprache und des Dialogs zu üben. In den Bilderbüchern wird das sprachliche Lernen in einen überschaubaren Rahmen gebetet, in dem ein sinnvoller, handlungsbezogener Sprachgebrauch in Form eines Dialogs stattfinden kann. Dieser Rahmen stellt die Sprachkultur des Kindergartens dar, in der Kinder ihre Sprache und Identität, trotz unterschiedlicher Voraussetzungen, begleitet von pädagogische Fachkräften, entwickeln können. (71)
Bild: Edit Schreiber-Wicke, Knut hat Wut
Mit Hilfe von Bilderbüchern können Kinder die eigenen Emotionen und Erfahrungen
diskutieren und dabei die Position von Außenstehenden einnehmen.

Lesen in Tirol: Edith Schreiber-Wicke, Knut hat Wut
Bild: Thienemann Verlag:

 

Wichtig ist, dass die frühpädagogischen Fachkräfte für das gezielte Vorlesen im Kindergarten über die theoretischen Grundlagen des Spracherwerbs und die Sprachkultur Bescheid wissen, die Interessen der Kinder aufmerksam berücksichtigen und dialogbereit sind, um die Grundlage für eine positive sprachliche Kommunikation in der Gruppe zu schaffen. Timm Albers nennt dazu folgende wichtige Punkte die es zu beachten gilt:

  • Welche Kinder sollen am dialogischen Lesen teilnehmen und warum?
  • Welchen Inhalt wähle ich für diese Kinder?
  • Welche Art von Buch wähle ich aus?
  • Habe ich für eine entspannte Atmosphäre gesorgt?
  • Habe ich darauf geachtet, dass alle Kinder einen Einblick in das Bilderbuch haben können?
  • Wie führe ich in die Geschichte ein?
  • Benutze ich weiteres Material, das zur Geschichte passt?
  • Welche gestischen und mimischen Elemente baue ich in die Geschichte ein?
  • Wie viel Zeit nehme ich mir für die Situation?
  • An welchen Stellen binde ich die Kinder in die Geschichte ein?
  • Welche Fragen kann ich den Kindern stellen? (72)

 

Bild: Kinder beim Spielen
Bilderbücher helfen in Kindergärten oder Kinderspielgruppen die sprachlichen
Grundlagen für die Kommunikation in der Gruppe zu fördern.
Foto: Pixabay – Lin Da

 

Als überaus gewinnbringend hat sich die Form des „dialogischen Bilderbuchlesens“ erwiesen, bei der den Kindern nicht wie beim klassischen Vorlesen eine passive, rezipierende Rolle zukommt, sondern wo die Kinder mit ihren Fragen und Interessen bei der gemeinsamen Bildbetrachtung im Mittelpunkt stehen. Die Erwachsenen fordern die Kinder durch gezielte Fragen heraus, selbst zu sprechen und eine Geschichte zu erzählen. Dies kann auch durch eine bewusste Provokation der Erwachsenen erfolgen, indem sie absichtlich Gegenstände falsch benennen oder falsche Behauptungen aufstellen, die den Widerspruch der Kinder provozieren.

Die Form der sprachlichen Kommunikation hängt vom Alter und der Entwicklung der beteiligten Kinder ab. Während die spielerische Auseinandersetzung mit dem Bilderbuch im dritten Lebensjahr noch durch ein wenig komplexes „Frage-Antwort-Struktur“ geprägt ist, entwickeln sich ab dem vierten Lebensjahr bereits komplexere Gesprächsstrukturen. Auch gewinnt das Gespräch und Spiel mit Gleichaltrigen zunehmend an Bedeutung. (79)

Die so gewonnenen Erfahrungen der Kinder beim gemeinsamen Lesen helfen eine kindliche Erzählkompetenz zu entwickeln. Sie lernen dabei das Schema und die Struktur von Geschichten kennen, das sie als Vorbild für eigene Geschichten verwenden können.

Feste Erzählzeiten und die sich wiederholende Struktur in den Bilderbuchgeschichten bieten einen sicheren Rahmen, in dem Kinder ihre Gedankenwelt entwickeln und zu eigenen Geschichten formen können. Episodische Geschichten erleichtern den Kindern durch ihre wiederkehrende Struktur den Einstieg in eine eigene Geschichte.

Das dialogische Kinderbuchlesen hilft auch Kinder mit Sprachförderbedarf dabei, ein sprachliches Modell zu verwenden, an dem sie ihre eigene Sprache orientieren und wertvolle Impulse ziehen können, wenn Erwachsene sie auf sprachliche Fehler aufmerksam machen, sie korrigieren und diese mit gemeinsam Beispielen erklären.

Sprachförderung mit Bilderbüchern (106)

Sprachförderung zielt auf die spezifische Förderung in sprachlichen Bereichen, wo einzelnen Kinder Schwierigkeiten aufweisen. Dazu müssen mit Hilfe einer Diagnose zunächst die vorhandenen Defizite festgestellt werden, um eine gezielte Sprachförderung bei einzelnen Kindern durchführen zu können.Die Sprachförderung in Kindergärten erfolgt in Kleingruppen, wo Bilderbücher gezielt zum Einsatz kommen, wobei sich das dialogische Bilderbuchlesen als besonders erfolgreich erwiesen hat. Dabei wird das Buch als Einstieg zum Dialog in Kleingruppen verwendet, an dem sich Kinder besonders stark beteiligen sollen. Einen hilfreichen Beobachtungsleitfaden zur Bestimmung sprachlicher Fähigkeiten bietet das 2009 im Verlag Julius Klinkhardt erschienene Buch von Timm Albers „Sprache und Interaktion im Kindergarten“.
Bild: Claude Dubois, Stromer
Während Bilderbücher früher meiste eine heile unbeschwerte Welt gezeigt haben,
werden heute zunehmend auch Themen mit komplexeren Charakteren und Themen
angesprochen. Lesen in Tirol: Claude K. Dubois / Sarah V. Dubois, Stromer

Bild: Moritz Verlag

 

Vor allem moderne Bilderbücher bieten für das dialogische Bilderbuchlesen neue und spannende Ansätze. Während ältere Bücher vor allem für das Vorlesen konzipiert worden sind, Bild und Text meist parallel den Inhalt erzählen und eine heile unbeschwerte Welt zeigen, finden sich seit den 1980-iger und 1990-iger Jahren zunehmend auch Themen mit komplexeren Charakteren, die zum Widerspruch einladen oder Probleme und Sorgen von Kindern zur Sprache bringen.

Je nach Bilderbuch können nämlich Kinder mithilfe der Bilder den Fortgang der Geschichte antizipieren, die Geschichte nur durch die Bilder erzählen oder anhand der Bilder über die Gefühle der handelnden Figuren nachdenken. Durch das Sprechen über eigene Erfahrungen können die Kinder die Perspektive der Figuren übernehmen und sich in die Situation hineindenken. […] Welche Chancen bieten diese vielfältigen Wechselspiele zwischen Bild und Text? Zu welchen Gesprächen und Handlungen laden sie Kinder und Erwachsene ein?
Kindergartenpädagogik: Eva-Maria Dichtl / Claudia Vorst, Das zeitgenössische Bilderbuch. Chancen literarischen, bildlichen und medialen Lernens

 

>> Bilderbücher und ihre Bedeutung für die Entwicklung von Kindern – Teil 1

>> Buchtipp: Franz Petermann (Hg.) / Silvia Wiedebusch (Hg.), Praxishandbuch Kindergarten


Weiterführende Links:

 

Andreas Markt-Huter, 29-05-2018
Titelbild: Pixabay, Alexandra

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