Natasha Pulley, Der Leuchtturm an der Schwelle der Zeit
„Den meisten Menschen fällt es schwer, sich ihrer frühesten Erinnerungen zu entsinnen. Es kostet sie Mühe, so als streckten sie sich nach ihren Zehen. Joe aber ging es nicht so – was daran lag, dass diese Erinnerung eine Woche nach seinem dreiundvierzigsten Geburtstag entstand. Er stieg aus dem Zug. Das war es: das Allererste, woran er sich erinnerte.“ (S. 11)
Nachdem Joe Tournier im Jahr 1898, 93 Jahre nach der Schlacht von Trafalgar in London aus dem Zug steigt, muss er feststellen, dass der Schaffner den Bahnhof mit einem französischen Namen ankündigt: Londres, Gare du Roi. Auch alle anderen Schildern trugen französische Bezeichnungen wie Musée Britannique, Metro oder Demoulins-Linie. England ist französisch geworden.
Joe Tournier leidet unter Amnesie und taucht desorientiert, verwirrt und ohne Erinnerung an seine Vergangenheit in einem London auf, das ihm gleichzeitig vertraut wie fremd erscheint und unter französischer Herrschaft steht. Der einzige Hinweis auf seine frühere Identität ist eine Postkarte mit dem Bild eines Leuchtturms, die ihm aus der mysteriösen Stadt „Eilean Mòr“ auf den schottischen Hebriden geschickt worden war. Zu seiner Verwunderung stammt die Postkarte aus dem Jahr1805 und wurde vor fast einhundert Jahre verschickt.
Nach der verlorenen Schlacht von Trafalgar wird England als französische Kolonie regiert. Lediglich im Norden Schottland finden sich noch letzte Widerstandsnester gegen die französischen Besatzer. Joe erscheinen die Verhältnisse der Gegenwart als fremd und merkwürdig und bald ist er davon überzeugt, dass die mysteriöse Karte mit dem Leuchtturm aus der Vergangenheit einen zentralen Schlüssel auf der Suche nach seiner Identität bilden.
Wie eine schicksalhafte Wendung erscheint es, dass Joe als Ingenieur zum Leuchtturm nach Eilean Mòr in den schottischen Norden geschickt wird und es ihm endlich gelingt, Licht in seine Vergangenheit zu bringen. Auf der Insel kommt er einem verborgenen Geheimnis, einem Portal auf die Spur, das Vergangenheit und Gegenwart miteinander verbindet, parallele Welten eröffnet und sein eigenes Schicksal bestimmt.
„Der Leuchtturm an der Schwelle der Zeit“ ist reichhaltiger, kompliziert verwobener Roman, der Elemente historischer Fiktion, Science-Fiction und spekulativer Geschichte verbindet. Die komplexe Handlung setzt sich den Themen Zeitreisen, Parallelwelten aber auch mit den Auswirkungen von Macht und Unterdrückung sowie Liebe, Homosexualität, Loyalität und den Opfern, die das Streben nach Wahrheit und Freiheit mit sich bringen, auseinander.
Die außergewöhnlich stark gezeichneten Charaktere und der stimmungsvolle Erzählstil ziehen die Leserinnen und Leser von Beginn an in ihren Bann. Der komplexen Handlung zu folgen, stellt für die Leserinnen und Leser aber auch eine gewisse Herausforderung dar.
Natasha Pulley, Der Leuchtturm an der Schwelle der Zeit. Übers. v. Jochen Schwarzer [Orig. Titel: The Kingdoms], ab 16 Jahren
München: Hobbit Presse / Klett-Cotta Verlag 2024, 544 Seiten, 14,40 €, ISBN 978-3-608-98763-8
Weiterführende Links:
Hobbit Presse / Klett-Cotta Verlag: Natasha Pulley, Der Leuchtturm an der Schwelle der Zeit
Wikipedia: Natasha Pulley
Andreas Markt-Huter, 31-07-2024